belmonte
brief aus stuttgart
autofahrt bei strömendem regen nach stuttgart
spät steigt das heilbronner kraftwerk aus dem grau heraus
erst bei ludwigsburg bahnt sich die sonne einen weg durch die wolken
vorbei am stuttgarter hauptbahnhof
der immer noch steht
richtung hegelplatz
besuch des linden-museums
das ellen widder in ihrer vorlesung über kultur- und alltagsgeschichte im spätmittelalter erwähnt hat
link zur vorlesungsaufzeichnung der universität tübingen
das neoklassizistische museumsgebäude von 1911 ist kolonialistische standortbestimmung
der namensgeber des museums
graf karl heinrich von linden
war vorsitzender des württembergischen vereins für handelsgeographie und förderung deutscher interessen im ausland
aus dem alten handelsgeographischen museum wurde das völkerkundemuseum
handel also als ausgangspunkt
kulturen verstehen
um absatzmärkte zu erschließen
entsprechend sind die stockwerke gefüllt mit artefakten
an die heute nur noch schwerlich heranzukommen wäre
es ist eine koloniale objektpracht
und natürlich ist das alles heute nicht mehr politisch korrekt
in der folge ist die richtung der herrschaftsansprüche nach wie vor erkennbar
was ändern daran umbenennungen wie in frankfurt
museum der weltkulturen
oder ist der erste satz aus dem leitbild des linden-museums
– „Wir sind ein Völkerkundemuseum. Wir betrachten alle Kulturen als gleichwertig.“ –
etwa doch mehr als eine kaschierung
immer noch ist die atmosphäre von völkerkundemuseen und naturkundemuseen mit ihren ausgestopften tieren und von nadeln durchbohrten käfern von ganz ähnlicher art
und wenn dann eine afro-navajo-amerikanerin ein konzert traditioneller navajo-gesänge im museum gibt
dann ist das ethno chic und schon okay
aber ich werde das gefühl nicht los
das hier ein dünner faden von den völkerschauen herüberreicht
masken
stoßzähne und kalebassen
indianerschmuck
keramik und bronze
eine gebetsnische mit fayencekacheln
arabische handschriften
die imitation einer bazarstraße
indische miniaturen
inschriften
buddhaköpfe
schiva-statuetten
wann immer von kunst die rede ist
ändert sich das bild
alle menschen werden künstler
es ist kein aktueller museumskatalog erhältlich
später bestelle ich mir im antiquariat den akkuraten doppelband von 1982
ferne völker frühe zeiten
kunstwerke aus dem linden-museum stuttgart
band eins
afrika ozeanien amerika
band zwei
orient südasien ostasien
im schuber
link zum datensatz im katalog der deutschen nationalbibliothek
wir trinken sekt im hegel eins
und fahren dann
vorbei am stuttgarter hauptbahnhof
der immer noch steht
nach feuerbach
lucio und livia zu besuchen
wir essen zusammen in einer hausbrauerei
sprechen über das deutsche schulsystem
und hören uns an
dass die herzen mit der ehe aufhören zu schlagen
(c) belmonte 2012