A Night to Remember
Einmal mehr ein Beitrag von Volker von unserem Partner-Blog „Die Nacht der lebenden Texte“
Katastrophendrama // Spoilerwarnung – sie geht unter! Nun, da dieser kleine Kalauer euch, liebe Leserinnen und Leser, an diesen Text gebunden hat, kann es ernsthaft weitergehen: Der Untergang der RMS „Titanic“ am 15. April 1912 wurde wiederholt für Kino und Fernsehen verfilmt. Die ersten beiden Umsetzungen entstanden noch im Jahr der Katastrophe. Bei „In Nacht und Eis“ von Mime Misu handelt es sich um eine nicht ganz dreiviertelstündige deutsche Produktion. Sie kann völlig legal im Internet-Archiv geschaut und heruntergeladen werden und findet sich auch bei YouTube. Bemerkenswert an dem zehnminütigen „Saved from the Titanic“ ist die Tatsache, dass sie nach Berichten der Überlebenden Dorothy Gibson gedreht wurde, die sich sogar selbst spielt. Dieser Film gilt als verschollen (im Internet-Archiv und bei YouTube findet sich zwar ein knapp zehnminütiger Film dieses Titels, er ist es aber nicht). Die spektakulärste und bekannteste Version ist natürlich James Camerons dreieinviertelstündiger, vielfach prämierter Blockbuster „Titanic“ mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, der ab Herbst 1997 weltweit in die Kinos kam. Jahrelang nach internationalen Einspielergebnissen der erfolgreichste Film, wurde das Werk in der Hinsicht bis heute lediglich von „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2009) und „Avengers – Endgame“ (2019) übertroffen.
„A Night to Remember“, so der Originaltitel von „Die letzte Nacht der Titanic“, basiert auf dem gleichnamigen Tatsachenbericht von Walter Lord. Die britische Produktion feierte ihre Premiere am 1. Juli 1958 in London und gelangte ab März 1959 auch in die deutschen Lichtspielhäuser. Der Film beginnt mit der Taufe und dem Stapellauf des Passagierschiffs am 31. Mai 1911. Offenbar eine kleine Beugung der Historie um der Szene willen: Tatsächlich verzichtete die Reederei White Star Line traditionell darauf, ihre Schiffe zu taufen und am Rumpf eine Champagnerflasche zu zerschlagen. Im Übrigen existieren keine Bewegtbildaufnahmen davon, wie die „Titanic“ beim Stapellauf ins Wasser gleitet, für den Film verwendete man den Trivia der IMDb zufolge Aufnahmen des 1938 erfolgten Stapellaufs der RMS „Queen Elizabeth“, seinerzeit das größte Passagierschiff der Welt.
Abfahrt aus Southampton
Zurück zur Spielhandlung von „Die letzte Nacht der Titanic“: Nachdem der Ozeanriese am 10. April vom an der englischen Ostküste gelegenen Southampton ausgelaufen ist, begibt sie sich mit kurzen Zwischenstopps vor dem französischen Cherbourg und dem südirischen Queenstown auf die Passage über den Atlantik. Am 14. April erreichen das Schiff erste Eiswarnungen, aber egal: Das Schiff gilt als unsinkbar. Kurz vor Mitternacht ist es soweit – der Ausguck meldet dem diensthabenden Offizier übers Telefon: Eisberg ganz nah vor uns, Sir! Der Wachhabende lässt das Schiff hart Steuerbord abdrehen und ordert volle Kraft zurück, aber zu spät. Die „Titanic“ wird auf einer Länge von 91 Metern unter der Wasserlinie seitlich aufgerissen.
Kapitän Edward John Smith (Laurence Naismith) schickt den Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (Michael Goodliffe) unter Deck, um den Schaden zu inspizieren. Dessen Fazit, die „Titanic“ werde sinken, will er anfangs nicht glauben, lässt sich aber schnell eines Besseren belehren. Andrews errechnet eine Frist von anderthalb Stunden bis zum Sinken. Und während die Passagiere nach der kurzen Erschütterung vorerst sorglos bleiben, beginnt der Kapitän, die Evakuierung des Schiffs zu organisieren, instruiert den Ersten Offizier William M. Murdoch (Richard Leech), den Zweiten Offizier Charles Herbert Lightoller (Kenneth More) und seine übrigen direkten Untergebenen entsprechend. Smith weiß: Es sind zu wenige Rettungsboote an Bord.
Inspiration für James Cameron
Die Bilder von James Camerons schier übermächtiger Version sind mir sehr vertraut. Aber diese vom späteren Horrorspezialisten Roy Ward Baker („Gruft der Vampire“, „Dracula – Nächte des Entsetzens“) in Schwarz-Weiß gedrehte Version der Katastrophe verfehlt ihre Wirkung ebenfalls nicht. Auch wenn in vielen Einstellungen deutlich erkennbar ist, dass mit Miniaturmodellen gearbeitet wurde – so war eben die damalige Tricktechnik. Wer in den Film versinkt (pardon the pun), kann dennoch die Illusion auf sich wirken lassen. Erst recht in den letzten Momenten des sinkenden Schiffs, wenn die Bilder zwischen der Großaufnahme des nahezu senkrecht stehenden Modells und Bildern der auf den Kulissen befindlichen Menschen wechseln. Hier sieht man auch am deutlichsten, dass sich James Cameron „Die letzte Nacht der Titanic“ im Vorfeld seiner eigenen Umsetzung der Tragödie sehr genau angeschaut haben muss (dem Vernehmen nach löste der Film bei ihm den Wunsch aus, sich des Stoffs selbst anzunehmen).
Die 1958er-Version ist ab dem Auslaufen sogleich viel stärker auf die Ereignisse um die Kollision mit dem Eisberg, die Rettungsmaßnahmen und das Sinken fokussiert, als das beim 1997er-Film der Fall ist (wer die Liebesgeschichte zwischen Kate Winslets und Leonardo DiCaprios Figuren bei Cameron in Ehren hält, hat dazu natürlich jedes Recht). Zwischendurch wechselt das Geschehen auf zwei andere Schiffe: Die RMS „Carpathia“ fängt den Notruf der „Titanic“ auf und eilt heran, trifft aber erst nach dem Untergang an der Unglücksstelle ein und nimmt mehr als 700 Überlebende auf. Die in großer Nähe aufgrund der Eisbergwarnungen zum Halt gekommene „Californian“ hingegen misinterpretiert Leuchtsignale vom havarierten Schiff und hat obendrein den Funkraum gerade nicht besetzt, sodass die Notrufe nicht empfangen werden.
Der Abschiedsblick eines Vaters
Sobald es um Leben und Tod geht, wird es emotional. Überaus bewegend gestaltet sich beispielsweise die kurze Szene, wenn der Passagier Robbie Lucas (John Merivale) eines seiner Kinder Offizier Lightoller übergibt, damit der es zur Mutter (Honor Blackman) ins Rettungsboot hebe, und der Blick des gleichwohl ruhig bleibenden Vaters uns verdeutlicht: Er weiß, wie es um das Schiff steht, und ahnt wohl, dass er seinen Lieben nicht folgen wird. Dem gegenüber steht das Verhalten von J. Bruce Ismay (Frank Lawton), Chef der White Star Line, der sich unvermittelt in ein Rettungsboot setzt, das gerade abgefiert wird (der echte Ismay wurde nach seiner Rettung auf beiden Seiten des Atlantiks Zielscheibe eines frühen Shitstorms). So erleben wir Heldengeschichten und Momente der Feigheit – ein Wechselbad der Gefühle. Es spricht für die Präzision der Inszenierung, dass dies Wirkung entfaltet, obwohl wir die Figuren gar nicht besonders gut kennenlernen.
Keinerlei Rolle spielt im Film das Rennen ums Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung eines Passagierschiffs. Dass Kapitän Smith und Eigner Ismay die Besatzung auf der Brücke zu Hochgeschwindigkeit anhielten, kann ohnehin ins Reich der Legende verwiesen werden.
Klassiker!
Walter Lords oben bereits erwähnte Vorlage gilt als sorgfältig recherchiert. Der Autor interviewte 64 Überlebende des Untergangs der „Titanic“. Das und die Tatsache, dass beim Dreh Überlebende als Berater hinzugezogen wurden, bewirkten, dass „Die letzte Nacht der Titanic“ bis heute einen guten Ruf als im Rahmen cineastischer Freiheiten akkurate Umsetzung der Ereignisse genießt. Da auch an der Dramaturgie, dem Ensemble und der Bildgestaltung nichts auszusetzen ist, darf dem Werk mit Fug und Recht Klassikerstatus zugestanden werden. Eine Preisflut erntete es zwar nicht, immerhin aber 1959 den Golden Globe als bester englischsprachiger Auslandsfilm (eine seit 1973 nicht mehr existente Kategorie).
Nach einer DVD 2005 und einer Blu-ray 2014 von zwei anderen Labels hat sich nun Pidax des Films angenommen und „Die letzte Nacht der Titanic“ in solider Bildqualität auf Blu-ray und DVD veröffentlicht (zur Sichtung lag mir die DVD vor). Als Boni auf den Scheiben finden sich der Originaltrailer und zwei Bildergalerien. Ein Nachdruck der „Illustrierte Film-Bühne“ Nr. 4745 inklusive der für diese Publikation üblichen vollständigen Inhaltsangabe liegt bei.
Beim Untergang der „Titanic“ starben mehr als 1.500 Menschen.
Veröffentlichung: 12. November 2021 und 15. Juli 2014 als Blu-ray, 5. November 2021 und 17. März 2005 als DVD
Länge: 123 Min. (Blu-ray), 121 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: A Night to Remember
GB 1958
Regie: Roy Ward Baker
Drehbuch: Eric Ambler, nach einem Roman von Walter Lord
Besetzung: Kenneth More, Ronald Allen, Robert Ayres, Honor Blackman, Anthony Bushell, John Cairney, Jill Dixon, Jane Downs, James Dyrenforth, Michael Goodliffe, Kenneth Griffith, Harriette Johns, Frank Lawton, Richard Leech, David McCallum, Alec McCowen, Tucker McGuire, John Merivale, Laurence Naismith, Russell Napier, Harold Goldblatt, Desmond Llewelyn
Zusatzmaterial 2021: Originaltrailer, Bildergalerie Pressefotos, Bildergalerie Werbematerial, Trailershow, Wendecover
Zusatzmaterial 2014: Trailershow
Zusatzmaterial 2005: Chronologie des Untergangs, technische Daten der „Titanic“, Geschichten & Legenden, diverse Kinotrailer, Original-Artworks, Biografien, Trailershow
Label 2021: Pidax Film
Vertrieb 2021: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2014: Ascot Elite Home Entertainment
Label/Vertrieb 2005: Indigo
Copyright 2022 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & unterer Blu-ray-Packshot: © 2021 Pidax Film, mittlerer Blu-ray-Packshot: © 2014 Ascot Elite Home Entertainment, DVD-Packshot: © 2005 Indigo