Schuld, Staub und Verfall – William Faulkner: Sartoris (Buchrezension)

valentino

Eine kurze Warnung vorweg: William Faulkners Buch Sartoris verstört und wirkt nach. Manche der Protagonisten sind lebensüberdrüssig oder sie folgen einer Todessehnsucht. Es gibt Schilderungen brutaler Gewalt, die Sprache ist derb, teils rassistisch. Wer es allerdings trotzdem liest, gewinnt einen tiefen Eindruck über das „Southern Gothic“-Genre.

Der Roman „Sartoris“ ist nach „Licht im August“ mein zweites Buch des US-Autors und Literatur-Nobelpreisträgers William Faulkner. Er handelt von vier Generationen einer Familie von Südstaaten-Aristokraten. Die Aristokratie befindet sich aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche in der Folge des Amerikanischen Bürgerkriegs im Niedergang. Das Buch erschien 1929 und stellt eine verkürzte Fassung des Werkes „Flags in the Dust“ dar, das posthum erstmals 1973 veröffentlicht wurde. Die Handlung spielt vor circa hundert Jahren, von 1919 bis 1920, also kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs.

William Faulkner: Sartoris

Das Haus der Sartoris liegt vier Meilen entfernt von Jefferson, der fiktiven Kreisstadt des Yoknapatawpha County, einem fiktiven Landkreis im Nordwesten von Mississippi, 75 Meilen entfernt von Memphis, Tennessee. Dort liegt es in einem Tal, das ein Hügelland im Osten, das sogenannte Oberland, begrenzt. Es gibt eine Veranda mit einer Kolonnade. Das Haus ist still und hell und sieht einladend aus:

„Die weiße Einfachheit des Gebäudes träumte ungestört zwischen uralten Bäumen …“

(S. 12)

Heimkehr und Flucht

Das Buch besteht aus fünf Teilen mit jeweils zwei bis neun Kapiteln. Gegen Ende des ersten Teils kehrt der junge Bayard aus dem Krieg heim. Er und sein Zwillingsbruder John waren Kampfpiloten. Die Staffel eines Schülers von Manfred Richthofen hatte John im Jahr zuvor bei Lille mit seinem Flugzeug abgeschossen, was Johnny das Leben kostete. Drei Monate später starben auch Caroline, Bayards Frau, und ihr neugeborener Sohn. Auch seine Eltern sind bereits tot: seine Mutter Lucy und sein Vater John.

Nach seiner Heimkehr kauft er sich in Memphis ein Automobil und rast damit fortan durch den Landkreis. Auf diese Weise versucht er, die Trauer über die Verluste und seine Schuldgefühle – er erlebt Flashbacks von Johns Flugzeugabsturz – im Geschwindigkeitsrausch zu vergessen, oder er versucht sie durch andere waghalsige Handlungen zu verdrängen, etwa indem er betrunken einen ungezähmten Hengst reitet, mit dem er stürzt. Während sich das Pferd aufrappelt, bleibt Bayard mit einer Kopfverletzung liegen.

Nachdem Doc Loosh Peabody ihn mit einem Kopfverband und einem Schluck Whiskey versorgt hat, soll ihn Suratt, ein Agent, mit seinem Firmenwagen nach Hause bringen. Stattdessen fahren sie jedoch in Begleitung eines weiteren Jünglings (Hub) zu einer Quelle, wo sie zu dritt aus einem Krug Whiskey trinken:

„ (…) und die drei saßen in ihrer kleinen friedlichen Mulde, fern von Welt und Zeit und umhaucht von dem kühlen und reinen Atem der Quelle und vom Sintern des Sonnenlichts zwischen den Holunderbüschen und Weiden, das wie verdünnter Wein war. Auf der Fläche der Quelle spiegelte sich der Himmel, betupft mit reglosen Buchenblättern.“

(S. 140 f.)

Familie, Tradition, Gewalt

Dann ist da sein Großvater, der alte Bayard, ein schwerhöriger Bankier, der Dumas liest. Er macht nachmittags Reitausflüge auf dem Pferd in die Umgebung, wobei ihn sein alter Hund begleitet. Sein Vater, Oberst John Sartoris, war ein Bürgerkriegsheld und hatte einst die Eisenbahn gebaut. Er erschoss bei einem Streit über das Wahlrecht für Schwarze mit seinem dreiläufigen Derringer kurzerhand zwei Yankees in ihrem Quartier, als die beiden gerade an einem Tisch saßen, auf dem ihre Pistolen lagen. Ein gewisser Redlaw tötete ihn, als er unbewaffnet und seiner Vergehen überdrüssig war. Der Geist des Obersten liegt wie ein Schatten über dem Haus, seinen Bewohnern und der Umgebung.

Oberst John Sartoris hatte zwei jüngere Geschwister: Bayard und Virginia (Tante Jenny). Bayard starb 1862 im Alter von 23 Jahren im Amerikanischen Bürgerkrieg vor der zweiten Schlacht von Manassas (Schlachten von „Bull Run“) als Adjutant von Jeb Stuart in Virginia. Tante Jenny kam sieben Jahre nach dessen Tod aus Carolina. Sie erzählt die Geschichte von Bayards Tod bis ins hohe Alter, wobei sie sie immer mehr ausschmückt.

Tante Jenny sorgt dafür, dass Sheriff Buck den jungen Bayard über Nacht ins Gefängnis steckt, weil dieser, statt mit seiner Kopfwunde nach Hause zu kommen, bis spät in die Nacht mit Hub, Mitch, einem Frachtagenten, und drei schwarzen Musikern eine Spritztour zum Nachbarort gemacht hat.

Bevor der alte Bayard im Automobil seines Enkels mitfährt, holt ihn Simon Strother, der oberste Hausdiener, jeden Feierabend mit der Kutsche aus Jefferson von der Bank ab und bringt ihn nach Hause. Während der Fahrt führen beide lange Gespräche. Simons Sohn Caspey, auch ein Kriegsheimkehrer, war bei einem Arbeitsbataillon in Frankreich. Nach seiner Rückkehr ist er demoralisiert und hat sich in den Kopf gesetzt, sich von den Weißen nichts mehr sagen zu lassen. Eines Nachmittags kommt der alte Bayard nach Hause. Als er bemerkt, dass Tante Jenny mit seinem Enkel ausgefahren und sein Pferd noch nicht gesattelt ist, prügelt er kurzerhand den aufsässigen Caspey mit einem Stück Feuerholz auf den Kopf die Treppe hinunter. Simon sagt daraufhin zu seinem Sohn:

„Und du solltest lieber Gott danken, daß (sic) Er dir so’n harten Kopf gemacht hat. Jetzt gehste und holst (sic) das Pferd und überläßt (sic) denen in der Stadt das Geschwätz von Niggerfreiheit: die könnens vielleicht verkraften. Wozu solln wir Nigger uns überhaupt ne Freiheit wünschen, möcht ich wissen? Haben wir jetzt nich so viele Weiße, wie wir aushalten können?“

(S. 86)

Die Handgreiflichkeit gegen Caspey war eine Übersprunghandlung, denn eigentlich war es Isom, Caspeys 16-jährigem Neffen, vorbehalten, das Pferd zu satteln. Die Bemerkung des alten Bayard kurz darauf, er könne sein Pferd auch selbst satteln, wirkt da recht bigott.

Die Sklaverei der Kolonialzeit ist ein dunkler Fleck in der Geschichte der Südstaaten. Nach ihrer Abschaffung 1865 erodierte diese zwar als Institution, die Gleichstellung der Schwarzen blieb jedoch in der Zeit der sogenannten Rekonstruktion – und bis heute – unerreicht. Außerdem war Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft auf der Plantage die „White Supremacy“-Ideologie entstanden: Weiße fühlten sich Schwarzen gegenüber „rassisch“ überlegen und erwarteten von ihnen absoluten Gehorsam. In der Folge wirkten sich die Machtverhältnisse auch auf die Beziehungen der Schwarzen untereinander aus: So fühlten sich zum Beispiel die von einer aristokratischen Südstaaten-Familie als Dienerschaft in dessen „erweiterten Kreis“ integrierten Schwarzen wiederum denjenigen überlegen, die auf den Feldern Baumwolle pflückten. Darüber hinaus gibt es in „Sartoris“ auch Gewalt innerhalb der Kernfamilie der Diener – so prügelt Simon, der eine Zeit lang Dekan der Baptisten-Kirche war, seinen Enkel Isom.

Der Fleck und das Herz

William Faulkner beschreibt den moralischen Verfall der Sartoris schonungslos. Obwohl alle Familienmitglieder roh sind, empfindet man gleichwohl Empathie mit ihnen, weil sie innerlich zerrissen sind. Die Handlung ist oft ironisch gebrochen oder tragikomisch, wofür exemplarisch die Geschichte von dem Fleck steht, den der alte Will Falls von der Armenfarm des Countys eines Tages an der Wange des alten Bayard entdeckt. Wer das Buch noch nicht kennt, sollte die folgende Textstelle überspringen, weil ab hier gespoilert wird.

Tante Jenny geht mit ihrem Neffen gegen dessen Willen zum jungen Doktor Alford. Dieser schlägt vor, die Geschwulst zu entfernen, doch Bayard weigert sich. Zu seinem Glück betritt in diesem Moment Loosh Peabody, der „dickste Mann im ganzen County“, die Praxis seines Kollegen. Nachdem er seine Brille aufgesetzt und die Stelle untersucht hat, nimmt er Bayard mit in seine Praxis, die sich gegenüber, hinter einer abgewetzten Tür, befindet. Dort will er dessen Herz abhören, weil er sich mehr um Bayards allgemeinen Gesundheitszustand sorgt als um die Geschwulst – zumal er davon erfahren hat, dass er im Automobil seines Enkels mitfährt:

„ (…) und er zog eine Schublade hervor und entnahm ihr eine Kiste Zigarren und eine Handvoll künstlicher Fliegen zum Forellenfischen und einen schmutzigen Kragen, und zuletzt brachte er ein Stethoskop zum Vorschein; dann warf er die übrigen Sachen wieder in die Schublade zurück und drückte sie mit seinem Knie zu.“

(S. 105)

Später behandelt der alte Falls die Stelle in Bayards Gesicht mit einer Salbe, die seine Großmutter vor 130 Jahren von einer Choctaw-Indianerin bekommen hatte und von der niemand weiß, welche Bestandteile sie hat. Angeblich soll die Geschwulst am neunten Tag im Juli abfallen. Nachdem sich Tante Jenny und der alte Bayard mehrere Tage lang jeden Abend gestritten haben, fahren sie zusammen mit Doktor Alford zu einem Spezialisten nach Memphis. Als der Spezialist gerade mit seinen Fingern die Stelle betasten will, fällt der, inzwischen von der Salbe geschwärzte, Auswuchs ab und es erscheint auf seiner „Wange eine runde Stelle rosig-heller Haut, wie bei einem Baby.“ (S. 240) Drei Wochen später erhalten die Sartoris die Rechnung des Spezialisten über fünfzig Dollar für dessen Behandlung.

Die Benbows, die MacCallums und die Snopes

Neben den Sartoris treten zahlreiche weitere Figuren auf, die ebenfalls alle sowohl verloren als auch leicht exzentrisch sind: Die Benbows sind allerdings ganz anders als die Sartoris und bilden deshalb einen willkommenen Kontrast.

Die 26-jährige Narcissa Benbow lebt mit ihrer etwas altmodischen Tante Sally Wyatt, die nicht blutsverwandt mit ihr ist, in einem im Tudorstil errichteten Haus in einer beschaulichen Gegend in Jefferson. Etwa nach der Hälfte der Erzählung kehrt ihr sieben Jahre älterer Bruder Horace, ein Anwalt mit einer Leidenschaft für die Glasbläserei, aus dem Krieg aus Europa heim, ohne sich dort an Kampfhandlungen beteiligt zu haben. Er hat eine Affäre mit der verheirateten Belle Mitchell, was zwischenzeitlich zu einer Entfremdung zwischen ihm und seiner Schwester führt. Julia, die Mutter der beiden, starb kurz vor ihrem Mann Will:

„Julia Benbow starb eines sanften Todes, als Narcissa sieben war, sie war aus dem Leben der Geschwister entfernt worden, wie man wohl ein Lavendelbeutelchen aus einem Wäscheschrank entfernt, und sie hinterließ eine zart verweilende Unfaßlichkeit, und als Narcissa heranwuchs, sieben und acht und neun Jahre alt wurde, schmeichelte sie den anderen beiden und beherrschte sie.“

(S. 180)

Narcissa und der junge Bayard können einander nicht ausstehen – ob sich da etwa eine Liebesbeziehung abzeichnet?

Dann sind da die MacCallums, sechs Brüder, die mit ihrem Vater in einem 18 Meilen entfernten Blockhaus in den Bergen leben, sechs Meilen von Mount Vernon, dem nächsten Dörfchen. Dort leben sie recht abgeschieden von der Jagd. Im besten Wortsinn könnte man sie etwas spöttisch als Hinterwäldler bezeichnen. Einige der Brüder tauchen manchmal in Jefferson auf. Die Zwillinge Bayard und John hatten vor einigen Jahren in ihren Ferien mit ihnen Füchse und Waschbären gejagt. Eines Tages im Winter gelangt der junge Bayard – auf der Flucht vor den Konsequenzen seiner Handlungen – durch die Fährte einer Füchsin mit seinem Pferd zufällig wieder zu ihnen.

Und dann gibt es da noch die Snopes. Eine seltsame Familie, dessen Mitglieder einer nach dem anderen aus Frenchman’s Bend, einer kleinen Siedlung im Oberland, nach Jefferson kamen und dort nun alle erdenklichen Gewerbe ausüben. Byron Snopes, der Buchhalter des alten Bayard, schickt Narcissa anonyme Briefe und stellt ihr heimlich nach – heute würde man ihn einen Stalker nennen. Dieser Handlungsstrang ist allerdings recht lose in die Erzählung eingeflochten.

Hoffnung

Der Roman verwebt virtuos Gegenwart und Vergangenheit. Die Handlung spielt manchmal leicht zeitversetzt oder es gibt Passagen, die entweder Versatzstücke aus der Erinnerung darstellen oder aus einer bestimmten Perspektive teils weit in der Vergangenheit liegende Ereignisse erzählen. So entsteht – sofern man sich auf Faulkners verschachtelt-filmischen Stil einlässt – ein dichtes Panorama des Landstrichs und seiner Figuren.

Für all jene, die sich näher mit Faulkners Werk beschäftigen wollen, sei in diesem Zusammenhang das Projekt DIGITAL Yoknapatawpha wärmstens empfohlen – dort findet man bei „Flags in the Dust“ auch eine Landkarte des Countys mit einer Visualisierung aller relevanten Schauplätze, Figuren und Ereignisse des Romans.

„Sartoris“ ist übrigens William Faulkners erster Roman, dessen Handlung in dem County spielt und bildet somit den Auftakt zu seinem Südstaaten-Romanzyklus. Das Wort „Yoknapatawpha“ entstammt der Sprache der Chickasaw-Indianer und bedeutet soviel wie „Fluss, der das Land teilt“.

Am Ende bringt Narcissa ihr Kind zur Welt. Sie gibt ihrem Sohn den Namen Benbow: Der erste Sartoris, der weder Bayard noch John heißt – wenn der Name nicht Programm und das mal kein Zeichen ist für den endgültigen Bruch mit der Tradition.

(c) valentino 2021

William Faulkner: Sartoris, Verlag Volk und Welt, Berlin 1988, 380 S.

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Am Ende der Krieg – Květa Legátová: Der Mann aus Želary (Kurzrezension)

belmonte

Květa Legátová: Der Mann aus Želary

Die Brünner Ärztin Eliška arbeitet 1942/43 für den Widerstand gegen die Deutschen und muss fliehen. Unter neuem Namen lebt sie in dem kleinen Bergdorf Želary. Ihre vorbereitete Heirat mit dem Sägewerkarbeiter Joza, einem liebevollen Hünen, dient ihrem Schutz, und es stellt sich heraus, dass Joza gar nicht der Dorftrottel ist, für den ihn die Dorfbewohner ausgeben.

Eliška wandelt sich, unter ihrem neuen Namen Hana, von einer modernen Städterin in eine Dorfbewohnerin, die nach und nach die Geheimnisse des Dorfes Želary und seiner Bewohner kennenlernt – einer stolzen Gruppe von Menschen, die sich weder von den Deutschen noch von den Russen unterkriegen lässt. Sie lernt ihren Mann lieben, nachdem sie ihre anfängliche Angst überwunden hat. Und von der wilden und weisen Alten Lucka lernt sie, dass es noch ganz andere Wege gibt, um Krankheiten zu heilen, als die moderne Medizin, die sie in Brünn gelernt hat.

Das Buch ist sehr kurz, die Thematik ist alles andere als neu, aber der angeschlagene Ton rührt auf seltsam unanrührige Weise an, die Natur, die Holzhütten, der Wald und die Eigenheiten der Leute werden mit wenigen Strichen gezeichnet, so dass kein Raum für Rührseligkeit bleibt.

Am Ende kommt der Krieg direkt ins Dorf.

Die unter Pseudonym schreibende Věra Hofmanová war dem kommunistischen Regime der Tschechoslowakei nicht genehm. 1919 geboren, schrieb sie erst in den 2000er Jahren ihre wichtigen Romane. Das Buch Der Mann aus Želary wurde 2003 unter dem Titel Želary verfilmt und für den Oscar nominiert. Ich bin gespannt, den Film irgendwann zu sehen und mich an dieses schöne kurze Buch zu erinnern.

(c) belmonte 2020

Květa Legátová: Der Mann aus Želary. Aus dem Tschechischen von Sophia Marzolff. Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 2009, 254 S.

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Das Lager als verborgenes Paradigma der Nation – Giorgio Agamben: Homo sacer – Die souveräne Macht und das nackte Leben (Kurzrezension)

belmonte

Giorgio Agamben: Homo sacer

Giorgio Agamben: Homo sacer

Auch wenn Giorgio Agamben in diesen Monaten schon mal komplett danebengelegen und die Corona-Pandemie kurzerhand dementiert hat (siehe z. B. hier …), ist sein 1995 erschienenes Buch Homo sacer nach wie vor bahnbrechend.

Auf der Basis des Begriffes des nackten Lebens veranschaulicht er unter anderem die negative Beziehung zwischen Flüchtlingen und Nationalität:

„Wenn die Flüchtlinge … in der Ordnung des modernen Nationalstaates ein derart beunruhigendes Element darstellen, dann vor allem deshalb, weil sie die Kontinuität zwischen Mensch und Bürger, zwischen Nativität und Nationalität, Geburt und Volk, aufbrechen und damit die Ursprungsfiktion der modernen Souveränität in eine Krise stürzen.“ (140)

Homo sacer ist brandaktuell und erklärt, warum sich so viele in ihren nationalen Kartenhäusern gemütlich eingerichtete Leute von Flüchtlingen so bedroht fühlen.

Agamben verknüpft die Geburt der Nation mit der Geburt des Lagers „als die verborgene Matrix der Politik“ (185). Die Lager sind nie verschwunden. Insellager und Transitzonen hinter Stacheldraht, die dem Begriff Transit Hohn sprechen. Das gesamte Mittelmeer als ein Schwellenbereich, in dem der nackte Mensch sich auf keinerlei Recht berufen kann.

Es ist eine der vornehmlichsten Aufgaben der Weltgemeinschaft, diese institutionalisierten Ausnahmezustände endlich abzuschaffen.

(c) belmonte 2020

Giorgio Agamben: Homo sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben. Übersetzt aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 2002, 213 S.

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„Los, sing, ruf deine Brüder zum Gebet.“ – Damir Ovčina: Zwei Jahre Nacht (Buchrezension)

belmonte

Damir Ovčina Zwei Jahre Nacht

Damir Ovčina: Zwei Jahre Nacht

Ich merke immer wieder, dass ich meinen Frieden mit Büchern mache, die mir während der Lektüre große Schwierigkeiten bereitet haben. Damir Ovčinas Roman Zwei Jahre Nacht über die Belagerung Sarajevos ist so ein Buch, mit dem ich mich über mehrere Wochen sehr schwergetan habe. Dieser Roman hat mich kaum berührt, und ich hätte ihn bei mangelnder Disziplin zur Seite gelegt.

Das Erzählte ist schrecklich, aber die vielen Leichen, die begraben werden, werden einfach nur in kalter und eintöniger Beschreibung begraben. Über weite Strecken konnte die Monotonie des Romans, auch die darin enthaltene Liebesgeschichte, nur Müdigkeit in mir erzeugen, und doch war ich am Ende irgendwie enttäuscht, dass es nicht einfach so weiterging. Ich hatte mich an die Monotonie gewöhnt.

Zwei Jahre Nacht beschreibt wie ein Gefängnisroman auf überwiegender Länge nur ereignislose Tage. Womöglich ist genau so das Gefängnisleben, womöglich ist genau so ein sich hinziehender Krieg, in dem die Ereignisse ereignislos werden. Das müsste aber auf andere Weise in ein 750 Seiten langes Buch eingefangen werden, oder eben auf sehr viel weniger Seiten.

Der Beginn ist vielversprechend. Die entzündeten Blutgefäße der Mutter des Erzählers sind ein treffendes Sinnbild des auseinanderbrechenden Jugoslawien und Ausblick auf den bevorstehenden Krieg. „Irgendwo eine Gewehrsalve.“ (56) Langsam und bedrohlich baut sich der Krieg auf und kommt immer näher. „Aus der Stadt immer stärkerer Beschuss. Explosion. Dann noch eine. Sirenen. Gewehrsalve. Explosion.“ (95) Die Nachrichten im Radio verheißen auch nichts Gutes.

Ein „Bulgare“ genannter Scherge geht nachts in die Stockwerke der Hochhäuser, klopft die Familien heraus und holt sich die Männer und Jungen oder ermordet sie gleich an Ort und Stelle.

Der namenlose Erzähler, ein säkularer muslimischer Jugendlicher, der eigentlich ganz andere Probleme hat, ist zur falschen Zeit am falschen Ort, nämlich im Stadtteil Grbavica, der gerade von der bosnisch-serbischen Armee und allerlei Paramilitärs besetzt und abgeriegelt wird. Unter ständiger Lebensgefahr muss er in einer Zwangsarbeitergruppe Leichen in der Umgebung und den umliegenden Wäldern begraben. Es ist eine schreckliche Aufgabe. „Wir heben einen Körper hoch, der in der Fötusstellung liegengeblieben ist. An mehreren Stellen von Schüssen getroffen. Die Tiere haben die toten Körper angefressen.“ (517) Ein mit ihm Gefangener überzeugt ihn, alles aufzuschreiben, damit die Nachwelt erfährt, was passiert ist.

Das geht monatelang so weiter, bis der Ich-Erzähler von zwei Soldaten gezwungen wird, auf den Knien laut singend zu beten. „Los, sing, ruf deine Brüder zum Gebet.“ (571) Es ist sein eigenes Totengebet, aber er lässt es sich nicht gefallen. Was dann geschieht, ist eine filmreife Szene und wird hier natürlich nicht weiter gespoilert.

Bei aller Brutalität ist Zwei Jahre Nacht keine einseitige Anklage. Der serbische Aufseher der Zwangsarbeitergruppe tut alles, um seine Gruppe zu schützen, hört sich die Klagen von Hinterbliebenen an, die nach ihren vermissten Angehörigen fragen, und versichert immer wieder, sich nach ihnen zu erkundigen. Auch die serbische Liebhaberin des Erzählers, die ihre Großmutter pflegt und den Erzähler miternährt, ist ein glückliches Gegenbild zu den aufgeflammten Nationalismen, die den grausamen Hintergrund des Buches abgeben. Neben dem Töten wird die Bösartigkeit in dem selbstgefälligen Wegraffen von Elektrogeräten aus den Wohnungen der geflüchteten oder umgebrachten Einwohner sichtbar.

Die Sommer in Sarajevo sind warm, die Winter bitterkalt. Ich habe im Internet nach Fotos gesucht, die meinem Lektüreeindruck der zerstörten Stadtteile Sarajevos im Winter nahekommen. Das folgende Foto vermag diesen Eindruck halbwegs zu vermitteln.

Sarajevo Grbavica

Blick auf den Stadtteil Grbavica (Quelle: US-Militär, Public Domain)

Der Roman wäre aus meiner Sicht großartig geworden, wenn er um 300 Seiten kürzer ausgefallen wäre. Die häufig ohne Verben auskommende Sprache ist eigentlich wunderbar karg und reporterhaft. Sätze wie „Ein Auto in der Ulica Splitska.“ wiederholen sich aber hundertfach und es wird irgendwann einfach öde. Wahrscheinlich sind die Jahre des Ich-Erzählers im eingeschlossenen Stadtteil Grbavica schrecklich und öde gewesen. Das macht aber das Buch nicht besser. Wie gesagt, am Ende habe ich mit Zwei Jahre Nacht dann doch meinen Frieden geschlossen.

(c) belmonte 2019

Damir Ovčina: Zwei Jahre Nacht. Übersetzt aus dem Bosnischen von Mascha Dabić. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019, 750 S.

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Woher wir kommen, wohin wir gehen – Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift (Buchrezension)

valentino

Wir wissen viel über die Hochkulturen Mesopotamiens, Ägyptens und Chinas. Kein Wunder, sie kannten die Schrift und haben ihr Wissen schriftlich weitergegeben. Deshalb stehen sie in der Regel am Anfang der modernen Geschichtsschreibung. Anders sieht es mit noch älteren Kulturen aus. Von ihnen fehlen meist schriftliche Quellen, weil sie entweder keine Schrift kannten, oder falls sie eine kannten, diese verloren ist. Hier kommt die Archäologie ins Spiel – sie versucht, Kulturen anhand von materiellen Funden zu beschreiben.

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift

In seinem 2014 erschienen Buch „Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift“ legt Hermann Parzinger eine große Menge an gesammeltem Wissen über diese frühen Kulturen dar. Er klammert die klassischen Hochkulturen aus und beginnt stattdessen bei den ältesten bekannten, von Menschenhand bearbeiteten Steinwerkzeugen, der ersten menschlichen Kulturleistung überhaupt.

Zwar ist das Buch teilweise etwas ermüdend zu lesen, weil der Autor an manchen Stellen viele Fachbegriffe verwendet wie zum Beispiel die Namen der verschiedenen Fundorte und die verschiedenen Schichten der jeweiligen Fundorte. Auch wird keine neue Theorie aus den gewonnenen Daten gebildet. Umso mehr beeindruckt jedoch der Blick auf das große Ganze.

zahlreiche Karten ...

zahlreiche Karten … / Foto: Valentino

In sechzehn Kapiteln beleuchtet der Autor sämtliche bekannten prähistorischen Kulturen bis zur Erfindung der Schrift, und lässt dabei – soweit aus heutiger Sicht zu beurteilen ist – keine aus. Allerdings verwendeten diese schon vor den Hochkulturen Zeichensysteme, die als Anfänge der Schrift gelten. Deshalb ist es durchaus schwierig, Schriftkultur und schriftlose Kultur voneinander abzugrenzen. Zumindest in Ansätzen hatten wohl alle Hochkulturen eine Schrift: die Azteken eine narrative Bilderschrift, die Inka eine Knotenschrift und in Textilien gewebte sogenannte Tocapu-Muster und die Harappa die Indus-Schrift mit piktografischen Zeichen. Jedoch fehlte diese offenbar in den urbanen Zentren Südturkmenistans aus der zweiten Hälfte des dritten Jahrtausends vor Christus:

„Konnten Megacitys also auch ohne Schrift funktionieren?“ (722)

Das eigentliche Thema des Buches ist der Übergang vom Wildbeutertum zur Sesshaftigkeit. Das liegt einerseits daran, dass sich die Zeit des Jungpaläolithikums, also bis zum Ende des Pleistozäns vor allem in Eurasien aufgrund der guten Datenlage differenziert darstellen lässt. Andererseits hat Parzinger, seit mehr als zehn Jahren Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, zuvor als Leiter des Deutschen Archäologischen Instituts zahlreiche Ausgrabungen in Mittelasien, Iran, Spanien und der Türkei durchgeführt und kann somit auf ein fundiertes Wissen zurückgreifen.

... und Abbildungen ergänzen den Text.

… und Abbildungen ergänzen den Text. / Foto: Valentino

In „Die Kinder des Prometheus“ geht der Autor von ausgewertetem Fundmaterial aus und verspricht sich einen Erkenntnisgewinn durch die Betrachtung spezifischer Merkmale verschiedener Regionen. Sein Augenmerk liegt dabei auf den Siedlungsformen, der Ernährung und Nahrungsbeschaffung, den Bestattungsformen und der Kunst. Bei seinem ambitionierten Vorhaben stößt er naturgemäß immer wieder auf Lücken, wobei er fehlende Quellen reflektiert.

Das erste Kapitel behandelt den gewaltigen Zeitabschnitt vom ersten Auftreten des Australopithecus in Afrika vor circa sieben Millionen Jahren bis zum Neandertaler, der bis vor circa 40.000 Jahren, also bis zum Beginn des Jungpaläolithikums, in Europa und im Nahen Osten lebte. Somit dauerte es mehrere Millionen Jahre vom aufrechten Gang über die Herausbildung der Greifhand und der Herstellung erster scharfkantiger Geröllgeräte bis zur Produktion von Faustkeilen und dem Wandel vom Aasfresser zum Jäger sowie von der Spezialisierung der Jagd bis zum Beherrschen des Feuers, das dem frühen Menschen die Besiedelung kälterer Regionen ermöglichte.

Wie wurden aus Jägern und Sammlern sesshafte Ackerbauern und Viehzüchter? Von einer „Neolithischen Revolution“, wie sie Gordon Childe beschrieben hat, kann nach der Lektüre keine Rede mehr sein. Stattdessen stellt sich die sesshafte Lebensweise als das Ergebnis jahrtausendelanger Adaptionsprozesse an die Umwelt dar. Schlaglichter auf diese Zeit des Umbruchs werfen die Kultstätte von Göbekli Tepe nahe Urfa in der Südosttürkei an der Schwelle von der jungen Altsteinzeit zum präkeramischen Neolithikum, Aşıklı Höyük im anatolischen Hochland aus dem präkeramischen Neolithikum oder die Großsiedlung Çatal Höyük in der Hochebene von Konya in Zentralanatolien, die für den Übergang vom präkeramischen zum keramischen Frühneolithikum steht. Dabei stellen die beiden letztgenannten Siedlungen autochthone Entwicklungen dar. Aşıklı Höyük steht darüber hinaus exemplarisch für die Koexistenz beider Lebensweisen: Während die Menschen in der Siedlung bereits sesshaft waren, lebten im nahegelegenen Musular weiterhin spezialisierte Rinderjäger (151f.).

Die Menschen blieben Wildbeuter in Waldgebieten ohne demografischen Druck, in Rückzugsgebieten und dort, wo die Umwelt schwer für den Ackerbau umgestaltet werden konnte oder wo die Umwelt Nahrung im Überfluss bereitstellte. Die produzierende Lebensweise brachte zudem nicht nur Vorteile mit sich. Sie führte beispielsweise zu einseitigerer Ernährung mit geringerem Proteingehalt. Der Wandel vom Wildbeutertum zur Sesshaftigkeit vollzog sich regional ganz unterschiedlich.

Die Kulturen des Saharo-Sudanesischen Neolithikums lebten genauso als Wildbeuter mit Keramik wie die endsteinzeitlichen Wildbeuter der Punpun-Kultur in Ghana. Die Kintampo-Kultur war die erste vollständig entwickelte neolithische Kultur in Westafrika. Die Jamnaja-Kultur im nordpontischen Steppenraum domestizierte als erste Pferde. Ebenso trifft dies für die Botaj-Kultur in der nordkasachischen Steppe zu. Während im sibirischen Mesolithikum halbsesshafte Wildbeuter lebten, war der Übergang zum Frühneolithikum fließend mit einem keramiklosen Neolithikum: Die Jäger-, Fischer- und Sammlergemeinschaften kannten bereits für das Neolithikum typische Steingeräte, stellten aber noch keine Tongefäße her. In Nordasien verhinderte das aufgrund der üppigen natürlichen Bedingungen reichlich vorhandene Nahrungsangebot den Ackerbau („ökologische Bremse“). Dennoch stellten die Menschen einfache Keramik her. Man spricht hier von der Zeit des Waldneolithikums.

In Armenien gab es Sesshaftigkeit ohne Keramik. Das Neolithikum der Dscheitun-Kultur in Südturkmenistan war von Ackerbau und Viehzucht geprägt. In Nordchina und Ostasien gab es Keramik vor der Sesshaftigkeit. Die Hongshan in Nordostchina waren mobile Jäger und Sammler, die Viehzucht betrieben und hochentwickelte Keramik herstellten. Im russischen Fernen Osten gab es Wildbeuter mit Keramik. Auch in Japan sorgte die „ökologische Bremse“ für eine späte Einführung des Ackerbaus: Weil die Natur reichlich Nahrung zum Jagen, Fischen und Sammeln lieferte, waren die Angehörigen der Jomon-Kultur sesshafte Wildbeuter. Aus demselben Grund lebten an den Küsten Südostchinas saisonal sesshafte Wildbeuter. Sowohl die Jomon-Kultur als auch die Wildbeuter der amerikanischen Nordwestküste waren trotz des Fehlens von Ackerbau und Viehzucht sozial hoch differenziert. In Mexiko führte der Anbau von Kulturpflanzen zur Sesshaftigkeit. Die Leute der Chinchorro-Kultur in Nordchile und Südperu waren präkeramische spezialisierte Fischer und Wildbeuter mit Sesshaftigkeit.

Die Schlussfolgerungen stellen das Bild einer einheitlichen kulturellen Entwicklung des Menschen in Frage – so löst sich nach der Lektüre nicht nur das „neolithische Bündel“ auf: Die Merkmale Sesshaftigkeit, Domestikation von Pflanzen und Tieren und Keramikproduktion treten erst nacheinander und bei jeder Kultur in unterschiedlicher Weise und Ausprägung auf –, sie verdeutlichen auch, wie zerbrechlich die Kulturen sind: Sie entstehen, blühen kurz und vergehen wieder oder gehen in anderen Kulturen auf.

Herzlichen Dank an den Verlag C. H. Beck für die Zusendung eines Rezensionsexemplars.

(c) valentino 2019

Hermann Parzinger: Die Kinder des Prometheus. Eine Geschichte der Menschheit vor der Erfindung der Schrift, C. H. Beck, München 2014, 848 S.

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Alexander M. Neumann: Träume aus Morphin (Buchrezension)

Edgar Barowski

Alexander M. Neumann: Träume aus Morphin

Alexander M. Neumann: Träume aus Morphin

In der Apotheke bekäme man für 15 Euro etwa ein halbes Gramm Morphin, dosiert in Retardtabletten zu 100 Milligramm. Beim Brot & Kunst Verlag bekommt man für denselben Betrag das 167 Seiten starke Träume aus Morphin von Alexander M. Neumann. Natürlich rezeptfrei und ohne Packungsbeilage, aber erstaunlicherweise auch ganz ohne einordnenden Klappentext. Denn nach einer Anleitung sucht man zunächst händeringend, wenn man dieses morbide Bündel aufschlägt und von schwarzen Seiten empfangen wird. Zu schwer schluckbar sind die eröffnenden Sätze, zu groß die Unsicherheiten darüber, worauf man sich hier einlässt: Ist Träume aus Morphin eine Sammlung von Kurzgeschichten, ein fragmentarischer Roman oder ein Erfahrungsbericht? Am ehesten noch ist es wohl ein wilder Kurzprosacocktail, der nichts ausschließen will.

Man springt umher zwischen düsteren Monologen und verschwommen Szenen, in denen man nach und nach wiederkehrende Charaktere und Schauplätze zu erkennen beginnt: Da gibt es (oder gibt es nicht?) Kid Chronic, den Energydrinkjunkie, eine Anstalt auf dem Berg voller unentdeckter „Talente“ und Dr. Thompson und sein Wartezimmer mit Sexheften. Grund und Richtung der Reise bleiben schlecht greifbar, aber durch alle Verschwommenheit der „Träume“ hindurch sticht die Sprache Neumanns immer wieder wie eine Nadel. Offensichtlich Surreales steht so klar und unaufgeregt formuliert neben denkbar Realem, dass man auch solche Sätze vorbehaltlos annimmt:

„Auf Station 12 hustet sich jemand die Seele aus dem Leib. Die Seele klatscht auf den Linoleumboden und kriecht mit letzter Kraft ans Ende des Flures, um dort zu sterben.“

Ja, hat man als Leser einmal akzeptiert, dass Träume aus Morphin nicht nur inhaltlich eine Menge mit Drogen zu tun hat, sondern auch in seiner Form einem „Trip“ gleicht, dann ist es leicht, sich im Schwarz der Seiten einfach treiben zu lassen. Was sich einstellt, ist eine gewisse Dankbarkeit, so tief in den Keller einer Psyche absteigen zu dürfen, ohne einen Einstich am Arm davonzutragen.

(c) Edgar Barowski 2017

Alexander M. Neumann: Träume aus Morphin. Mit einer Umschlagsillustration von Nina Bussjäger. Brot & Kunst Verlag, Neustadt/Weinstraße 2017, 167 S.

Link zum Buch auf www.brotundkunst.com

Diese Rezension wurde ursprünglich veröffentlicht unter Edgar-Barowski-rezensiert-Träume-aus-Morphin. Die Wiederveröffentlichung auf vnicornis erfolgt mit Genehmigung des Verlegers Florian Arleth.

Von den Tafelbergen bis zu den Totempfählen – Peter Baumann und Martin Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Buchrezension)

valentino

Die traditionell angewandte Kunst der Ureinwohner Amerikas bleibt beim Übergang in die Moderne stets in ihrer Kultur verwurzelt. Ihre Bedeutung verändert sich jedoch im Kontext ihrer Verwendung, was sich auch in der kunstvollen Gestaltung der Gebrauchsgegenstände widerspiegelt. Beim Zusammentreffen und Austausch mit europäischen Kunstformen hat sie sich zudem weiterentwickelt. Allen Künstlern gemein ist, dass sie trotz ihrer Zugehörigkeit zu heterogenen Gruppen wie unter anderen der Apache, der Dakota oder der Haida, über die Reanimierung ihrer eigenen Kultur hinaus identitätsstiftend wirken. Dafür finden Peter Baumann und Martin Schliessler in ihrem Buch „Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes“ zahlreiche Beispiele.

„Als Völker aber sind sie so voneinander unterschieden wie etwa die Norweger von den Italienern. (…) Jeder Stamm mußte also auf eigene bescheidene Weise das Rad neu erfinden. Das College führt nun die Kinder aus den verschiedenen Stämmen erstmals zusammen, und sie stellen zum erstenmal [sic] fest, daß sie die gleichen Wünsche und Sorgen haben. Sie empfinden so etwas wie Gemeinschaftsgeist.“ (112)

Dabei wirkt der Kontakt zu den Europäern sowohl störend als auch inspirierend. Als Beispiel für Letzteres sei Karl Bodmer erwähnt. Der Mandan-Häuptling Mato-tope malt 1834 unter seiner Anleitung mit Wasserfarben auf Papier die vermutlich älteste bekannte indianische Malerei mit Materialien eines Weißen. Vier Jahrzehnte später beginnt die indianische Kunstmalerei in den Schulen, Forts und Gefängnissen der Weißen – den ersten aufständischen Künstlerkolonien.

In Anadarko, Oklahoma, fördert Susan Ryan Peters die sogenannten fünf Kiowa. Mitunter setzen sie im Meskalin-Rausch, der den Sehnerv beeinflusst, ihre Visionen in Bilder um. Der Hopi-Künstler Dan Namingha wiederum lässt sich von Kachina-Puppen inspirieren, die Ahnengeister der Pueblos darstellen und als Mittler zwischen den Welten gelten.

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Hopi)

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Hopi)

Das Buch ist nach Regionen in drei Teile gegliedert. Im ersten stellt Baumann neben dem bereits erwähnten Namingha exemplarisch weitere Künstler des Südwestens vor, darunter T. C. Cannon, Fritz Scholder und den Navajo R. C. Gorman, zu dessen Vorbildern die Mexikaner Siqueiros, Rivera, Orozco und Zúñiga gehören. Oscar Howe und Allan Houser gehen aus einer rein dekorativen Malschule hervor, von der sie sich jedoch später abwenden und eigene Wege gehen. Während die Malerin Jaune Quick-to-See Smith Felszeichnungen der Anasazi im Canyon de Chelly in ihr Werk aufnimmt, belebt Randy Lee White die piktografische Sprache wider.

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Comanche-Kiowa & Kiowa)

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Comanche-Kiowa & Kiowa)

Im zweiten und dritten Teil setzt sich Schliessler mit der Kunst der Nordwestküste und der Inuit (Eskimo) auseinander und führt jeweils exemplarisch die Bildhauer Bill Reid für erstere und Kania für letztere an. Das gebundene Buch enthält zahlreiche Fotos, insbesondere Abbildungen der Kunstwerke.

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Inuit)

Baumann, Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes (Inuit)

Ich habe „Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes“ neulich beim Stöbern in meinen Bücherregalen wiederentdeckt. Vielleicht wäre es von Vorteil gewesen, anstelle der Vielzahl von vorgestellten Künstlern einige wenige Künstler-Monografien zu schreiben, weil so doch manches an der Oberfläche bleibt. Trotzdem ist das Buch überaus informativ, und wer wie ich schon immer von nebligen, mit Totempfählen bestandenen, Geisterwäldern der Nordwestküste oder von Tafelbergen und Felsschluchten des Südwestens geträumt hat, kommt bei der Lektüre voll auf seine Kosten.

Besonders beeindruckend fand ich Schliesslers Schilderung der Landschaft der Nordwestküste, die er teils mit dem Helikopter bereist hat. Mitte der 80er-Jahre kehrt der Autor für Filmaufnahmen nach dreißig Jahren zurück an einen Ort auf Baffin Island und bemerkt dort während der Teilnahme an einem Walfest der Eskimo den Umbruch in der traditionellen Inuit-Gesellschaft.

Die Autoren weisen zahlreiche Werke vor. Schliessler wirkte an Dokumentarfilmen mit. Baumann veröffentlichte als Journalist Sachbücher und Romane. Mit ihrem Buch „Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes“ wollen sie, so schreiben sie einleitend, eine Bestandsaufnahme der indianischen Kunst Amerikas machen. Dafür haben sie jahrelang recherchiert und die Orte bereist. Ob sie dieses ambitionierte Vorhaben erreicht haben, wage ich zu bezweifeln. Dennoch vermittelt das Buch einen bemerkenswerten Einblick in die indianische Kunst und vermittelt auf diese Weise einen Eindruck von der untergegangenen indianischen Welt, in der alles beseelt war.

(c) valentino 2018

Peter Baumann; Martin Schliessler: Amerikas indianische Seele. Die Bilderwelt des Roten Mannes, ECON, Düsseldorf, Wien, New York 1987, 280 S.

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Ich werde Jack Kerouacs Unterwegs bestimmt nicht abtippen – Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing – Sprachmanagement im digitalen Zeitalter (Buchrezension)

belmonte

Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing - Sprachmanagement im digitalen Zeitalter

Kenneth Goldsmith:Uncreative Writing – Sprachmanagement im digitalen Zeitalter

Ich hole aus Kenneth Goldsmiths Buch Uncreative Writing – Sprachmanagement im digitalen Zeitalter einige Anregungen heraus, aber insgesamt überzeugt mich das Buch wenig und begeistert mich noch weniger.

Mir ist dieses ganze Parsen, Kopieren und Verwalten und die Appropriation von Texten klar, und mit der Digitalisierung nehmen diese Prozesse massiv zu, haben ihren eigenen Charme und werfen ganz neue Werke mit ganz eigenen Gesetzmäßigkeiten in die Welt.

Warum sollte ich aber deshalb den originären, schöpferischen, in welcher Tiefe auch immer kreativen Prozess des Dichtens verwerfen, den Goldsmith gar nicht wirklich berührt? Texte im Fluss (52), ständige Wörtermassenspiele, Hypertext-Code, „postidentitäre Literatur“ (115), Maschinenlesen (237), soziale Medien als Droge, ich mache all diese Trends begeistert mit, aber es wird noch keine Poetologie daraus. Womöglich übernehmen das in Zukunft die Maschinen.

Sehr aufschlussreich fand ich die Referenzen an moderne Kunst, vor allem LeWitt und Warhol. Jack Kerouacs Unterwegs werde ich aber bestimmt nicht abtippen.

(c) belmonte 2018

Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing – Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. Erweiterte deutsche Ausgabe. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Swantje Lichtenstein und Hannes Bajohr. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2017, 352 S.

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Eindringliche Bilder aus einem geteilten Amerika – Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Buchrezension)

belmonte

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few

Ich lese regelmäßig Comics und fühle mich zwischen europäischen Alben und amerikanischen Heftformaten gleichermaßen heimisch, kann allerdings mit Superhelden und Mangas bis heute relativ wenig anfangen (mein Problem).

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Escape in the Forest)

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Escape in the Forest)

Reine Romannacherzählungen in Form von Comics verstehe ich oftmals auch nicht so ganz (etwa Kafkas Prozess oder Anne Franks Tagebuch). Da lese ich lieber die Originale. Vielleicht sind aber Romannacherzählungen als Comics zumindest eine Hinführung, um nicht gleich zu Beginn im Original steckenzubleiben. Von Moby Dick gibt es zumindest ein paar gekürzte Jugendfassungen, man muss hier nicht unbedingt zum Comic greifen.

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Mama)

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Mama)

Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich den Begriff Graphic Novel so sinnvoll finde. Es sind Comics. Und Comics können für mich, ebenso wie Romane, U oder E oder beides sein. Jedenfalls liegen die amerikanischen, aus so und so vielen Einzelheften zusammengesetzten Sammelbände gut in der Hand. Das oftmals hinzugefügte Skizzenmaterial und alternative Covers im Anhang tun ihr Übriges, um mein Lesevergnügen zu steigern.

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Sketch)

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Sketch)

Alle paar Comics bin ich dann mal wieder so richtig begeistert. Insbesondere Sean Lewis‘ und Hayden Shermans The Few hat es mir kürzlich angetan. Die Geschichte ist okay, nicht überwältigend, Hayden Shermans Grafik dagegen, und was sie aus der Geschichte macht, ist ein echter Wurf, kubistische Zeichnungen, die dennoch sehr real anrühren, die angedeuteten Gesichtszüge sind umso intensiver, Zeitsprünge und sehr viele zeichnerische Details erfordern aufmerksames und zurückblätterndes Lesen, die großformatigen Bilder der Winterwälder sind besonders eindringlich, die Geschichte der Rettung eines Babys durch die desertierte Söldnerin Edan Hale und alttestamentarische Zutaten (Herrod) in einem auseinandergebrochenen Amerika mit massakrierenden, vermummten Motorradfahrern und überwachten Restmetropolen sind wenig originell, die exzellenten Zeichnungen und ihre Choreographie lösen aber sehr viel in meinem Kopf aus. Unbedingte Leseempfehlung.

(c) belmonte 2018

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few. Image Comics, Portland, OR, 2017.

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Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Faulkner Quote)

Sean Lewis, Hayden Sherman: The Few (Faulkner Quote)

„Möchtest du nicht manchmal einfach nur … ein Mensch sein?“ – N. K. Jemisin: Zerrissene Erde (Buchrezension)

belmonte

N. K. Jemisin: Zerrissene Erde

N. K. Jemisin: Zerrissene Erde

Ich wollte nach einiger Zeit mal wieder Fantasy lesen und bin, ich weiß nicht mehr genau wie, auf N. K. Jemisins Broken-Earth-Trilogie gestoßen. Ich lese gut Englisch, aber es braucht eben doch ein wenig länger, und da der erste Band Zerrissene Erde gerade auf Deutsch erschienen ist, habe ich mich für die deutsche Übersetzung entschieden.

Das Buch war dann gar nicht so einfache Lektüre, wie ich anfangs dachte. Eine komplexe Welt erwartete mich da, mehr eine Mischung aus Fantasy und Science-Fiction. Irgendwo habe ich den Begriff Science Fantasy gehört. Der trifft es ganz gut. Es kommen ein paar unbekannte Tiere vor, keine Drachen, und was nach Magie klingt, sind eher wissenschaftlich untermauerte Fähigkeiten, zum Beispiel das Erspüren von seismischen Bewegungen oder aktiven Heißflecken im Erdinneren durch mentales Ertasten, so genanntes Mentasten. Wer in dieser auch Orogenie genannten Fähigkeit mächtig ist, kann ganze Erdplatten bewegen und sogar Erdbeben auslösen. Die Orogenen aber sind alles andere als hoch angesehen, denn wer von ihnen nicht trainiert ist, kann schnell mal durch einen Wutausbruch versehentlich eine ganze Stadt verwüsten. Selbst die besten Orogenen werden daher von noch mächtigeren Wächtern beaufsichtigt.

Die Geschichte handelt

  • von der jungen Damaya, die gerade ihre Orogenie entdeckt,
  • von der bereits in Orogenie trainierten Syenit, deren orogene Fähigkeiten sich als außerordentlich mächtig herausstellen,
  • von der bereits älteren Essun, deren Mann gerade ihren Sohn getötet und sich mit ihrer Tochter auf und davon gemacht hat. Auch sie ist eine Orogene.

Bevor die drei im späteren Verlauf auf erstaunliche Weise zusammenkommen, gehen sie ihrer unterschiedlichen Wege – und das stets in Begleitung, etwa des Wächters Schaffa, der als Zeichen seiner Macht Hände zerbricht, oder des zehnberingten (also ebenfalls sehr mächtigen) Orogenen Alabaster, von dem vor allem Zeugungsfähigkeit erwartet wird, oder des Jungen Hoa, der gar kein Junge ist, sondern ein steinalter Steinesser. Alle haben ihre besonderen Fähigkeiten. Steinesser zum Beispiel verwandeln dich gern mal in Stein, ziehen dich unter die Erde und stoßen dich irgendwo an anderer Stelle wieder aus der Erde hervor. Sicherlich schmerzhaft. Kann aber auch mitunter die letzte Rettung vor den Wächtern sein.

N. K. Jemisin: The Fifth Season

N. K. Jemisin: The Fifth Season

Nicht nur mit den Orogenen spiegelt Jemisin den Rassismus unserer eigenen Welt. Nicht von ungefähr werden die Orogenen von Nicht-Orogenen Rogga genannt, da klingt Nigga an. Die Orogenen sind die Ausgestoßenen, die Verfolgten, die schnell mal umgebracht werden, bevor sie irgendein Unheil anrichten.

Alabaster fragt Syenit: „Möchtest du nicht manchmal einfach nur … ein Mensch sein?“ und sie antwortet: „Wir sind keine Menschen.“. Er aber besteht darauf: „Dass wir keine Menschen sind, ist genau die Lüge, die sie sich erzählen, damit sie sich nicht schlecht angesichts der Tatsache fühlen müssen, wie sie uns behandeln“ (376).

Jemisin hat sicherlich noch viele weitere Spiegelungen aus unserer Welt in ihre Erzählung eingebaut. Ich habe bestimmt nicht alles erkannt. Aber dass die Welt gerade im Innern auseinanderbricht und die Menschheit sich auf eine sehr lange, wenn nicht gar endgültige Dunkelheit vorbereiten muss, ist ein bedrohliches Menetekel unserer eigenen Welt.

Der Roman ist wunderbar schnell und abwechslungsreich und hält einige hervorragende Wendungen bereit. Von einigen Kleinigkeiten abgesehen erscheint mir auch die Übersetzung gelungen. Mir gefällt das Cover der englischen Ausgabe allerdings deutlich besser. Ohnehin bin ich der Ansicht, dass die Amerikaner derzeit ansprechendere Cover kreieren.

N. K. Jemisin hat für jeden der drei Bände als erste Autorin in drei aufeinanderfolgenden Jahren jeweils den Hugo Award erhalten und ist als schwarze Autorin in eine weiße Domäne gestoßen, was dem Genre mehr als gut tut. Einen Eindruck davon, wie viel Skepsis ihr von Agenten und Lektoren entgegengebracht wurde, erhält man von ihrer Rede bei der Hugo-Preisverleihung:

(c) belmonte 2018

N. K. Jemisin: Zerrissene Erde. Übersetzt von Susanne Gerold. Knaur, München 2018, 494 S.

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Ein Jahrhundertroman – Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka) (Buchrezension)

belmonte

Meine nächste Lektüre wählte ich nach der Rastermethode aus:

  • Ich wollte das Buch einer Schriftstellerin lesen. Mir war aufgefallen, dass ich zu viele Bücher von Männern lese.
  • Das Buch sollte möglichst in einem Indie-Verlag erschienen sein.
  • Mehr als sechshundert Seiten sollten es schon sein, und bitte recht episch.
  • Mehrere Generationen sollte das Buch umfassen, das wäre nicht schlecht.
  • Aktuelle deutschsprachige Literatur war auch mal wieder an der Reihe, die habe ich lange vernachlässigt.
  • Vielleicht ein wenig Europa und Geschichte und Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit und Umbrüche 1989, von allem ein bisschen.

Genau so ein Buch zu finden, das kam mir etwas unwahrscheinlich vor. Aber dann hielt ich Nino Haratischwilis monumentalen Georgien-Roman Das achte Leben (für Brilka) in meinen Händen, und er entsprach genau dem Raster, nach dem ich gesucht hatte. Jetzt musste mich das Buch nur noch mitreißen.

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka)

Und es hat mich mitgerissen. Es ist alles drin, was das europäische Zwanzigste Jahrhundert ausgemacht hat. Erster Weltkrieg, Russische Revolution, Stalin, Hitler, Verfolgung, Zweiter Weltkrieg, lähmende Jahrzehnte danach, Prager Frühling, Moskau, London, Berlin, Amsterdam, Wien, und vor allem Tbilissi und Georgien.

Immer wieder kommt eine unwiderstehliche Schokoladenmischung vor, die für den, der sie kostet, meist im Unglück endet. Diese Schokoladenmischung, erfunden (oder besser: entdeckt) vom namenlosen Schokoladenfabrikanten, der die Familiendynastie der Jaschi begründet, zieht sich wie ein roter (brauner?) Faden durch das gesamte Buch.

Erzählerin ist Niza Jaschi, die ihrer Nichte Brilka die gesamte Familiengeschichte über sechs Generationen erzählt, während diese mir nichts, dir nichts aus Amsterdam nach Wien entschwindet. Warum? Lest das Buch.

Ich erinnere mich gern an die vielen Personen, die Nino Haratischwili allesamt mit Meisterschaft einführt. Da ist zum Beispiel Stasia Jaschis Tante Thekla in Sankt Petersburg, bei der Stasia kurz nach der Revolution unterkommt und in deren großbürgerlichem Haus ihr ein Lehrer Ballett beibringt. Thekla ist eine herrliche Person, sie trotzt den Bolschewiken, aber lange geht es nicht gut und Stasia muss zurück nach Georgien.

Generationenbäume

Generationenbäume

Unter den zahlreichen Hauptpersonen gibt es nur wenige, die ich nicht ins Herz geschlossen habe. Selbst Kostja Jaschi, der Betonkommunist, ist bei aller Brutalität gegen seine Töchter oder gegen vermeintliche Regimegegner eine sehr nachfühlbare Persönlichkeit. Eine frühe tragische Liebe in Leningrad während der deutschen Belagerung hat ihn gefühlskalt werden lassen.

Da ist die wunderschöne Christine Jaschi, die den Parteifunktionär Ramas heiratet, aber von dessen Chef – keinem Geringeren als dem Millionenschlächter Lawrenti Beria – immer wieder sexuell missbraucht wird. Auch diese Episode endet tragisch und in Verstümmelung.

Wunderbar gezeichnet ist auch Kitty Jaschi, die nach tragischer Liebe (mit schlimmster Folter und Abtreibung) über Prag in den Westen abgeschoben, in London eine gefeierte Sängerin wird und auf dem Höhepunkt ihrer Sängerkarriere nach Prag fährt, um während des Einmarsches der Warschauer-Pakt-Truppen mit ihrer Gitarre auf dem Wenzelsplatz ein altes Volkslied (oder doch eine Freiheitshymne?) zu singen. In London verliebt sie sich in die faszinierende, aber tief verzweifelte Wienerin Fred Lieblich, deren Familie von den Nazis ermordet wurde. Daraus wird eine alles andere als stabile Beziehung. In diesem Buch ist nichts stabil.

Nino Haratischwili

Nino Haratischwili / Foto: Julia Bührle-Nowikowa (gemeinfrei)

Ganz wie Elsa Morante in ihrem Roman La Storia (Rezension siehe hier …) bindet Haratischwili immer wieder die historischen Umstände und Geschehnisse ein. Familiengeschichte ist Weltgeschichte.

Allen Kapiteln wird ein Motto oder Zitat oder Vers vorangestellt, von Zwetajewa, Achmatova, Lenin, Schostakowitsch über Tschechow, Depeche Mode zu Gorbatschow und vielen anderen. So auch Stalin, der Generalissimus:

„Der Tod eines Mannes ist eine Tragödie, aber der Tod von Millionen – nur eine Statistik.“

Das Buch ist mit knapp 1300 Seiten ein echter Ziegelstein. Ich bin dennoch gut durchgekommen. Aus meiner Sicht handelt es sich gar nicht um einen Roman. Wenn das Buch verfilmt würde, wäre es eine Serie mit zig Handlungssträngen.

Ohnehin ist der Autor dieser Zeilen der Ansicht, dass der bürgerliche Roman tot ist und sich mittlerweile in Serie oder Epos verzweigt hat.

In diesem Buch wird viel gestorben. Aber wenn über sechs Generationen erzählt wird, sterben eben viele. Und die Toten sitzen am Gartentisch und spielen Karten. Genau wie in Wassili Grossmans Roman Leben und Schicksal (siehe hier …) ist es dennoch das Leben, das zählt:

„Wir hatten es nicht schön. Es war die Hölle auf Erden.“
„Rede keinen Unsinn. Erinnere dich. Wir haben gelebt, Kitty. Wir waren da.“ (1019)

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka) (Buchrücken)

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka) (Buchrücken)

Mit Das achte Leben (für Brilka) hat Nino Haratischwili (1983 in Tiflis geboren) ein Buch über Georgien, über die Sowjetunion, über Europa und über das Zwanzigste Jahrhundert geschrieben, das als Vorbereitung auf die diesjährige Frankfurter Buchmesse mit Gastland Georgien unbedingt zu empfehlen ist.

Mal schauen, ob das nächste 1000-seitige Familienepos, das ich in der Hand habe, Miljenko Jergovićs Die unerhörte Geschichte meiner Familie, an Haratischwilis Jahrhundertroman herankommt. Jedenfalls freue ich mich auf Haratischwilis neuen Roman Die Katze und der General.

(c) belmonte 2018

Nino Haratischwili: Das achte Leben (für Brilka). Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014, 1280 S.

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„When someone is ready to kill herself, does she consider if the poison is bitter or sweet?“ – Saratchandra Chattopadhyay: Devdas (Buchrezension)

belmonte

Saratchandra Chattopadhyay: Devdas

Saratchandra Chattopadhyay: Devdas

Zum soundsovielten Mal habe ich Saratchandra Chattopadhyays 1917 erschienenen bengalischen Roman Devdas gelesen.

Es ist die Geschichte von Devdas Mukherjee, Sohn eines reichen Großgrundbesitzers, der seine Kinder- und Jugendliebe Parvati (Paro) Chakravarti, die aus einer Händlerfamilie stammt, nicht heiraten darf und daran zerbricht und sich zu Tode säuft.

Das Buch ist bei aller Bitternis packend bis zum Schluss. Es hätte ein hunderte Seiten langer Wälzer sein können, mit 128 Seiten bleibt es ein schmaler Band mit kurzen Kapiteln, sehr viel Dialog, aufs Nötigste kondensiert. Die englische Übersetzung von Sreejata Guha bringt alles auf den Punkt und ist alles andere als süßlich.

Louis Aragon nennt Tschingis Aitmatows Novelle Dshamilja „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ (Rezension siehe hier). Ich sage, Devdas ist der schönste, zumindest aber der bittersüßeste Liebesroman der Welt. Obwohl Parvati bereits weiß, dass sie Devdas nicht heiraten wird, ist er für sie doch ihr wahrer Gemahl, wie sie ihrer Freundin Manorama mitteilt: „If he wasn’t my husband, beyond all my shame and embarrassment, I wouldn’t be in this state today. Besides didi, when someone is ready to kill herself, does she consider if the poison is bitter or sweet?“ (31)

Saratchandra Chattopadhyay: Devdas (bengalisch)

Saratchandra Chattopadhyay: Devdas (bengalisch)

Nachdem Devdas Parvati verlassen hat und sie mit einem verwitweten Großgrundbesitzer verheiratet wird, dessen Kinder so alt wie sie selbst sind, fällt aller Lebenssinn von ihm ab und er überlässt sich dem Alkohol: „As the night wore on, the realization dawned on Devdas, that the very meaning of his life had suddenly fallen, paralyzed, by the wayside, and left him bereft for all times to come. (…) It would be wrong to even recall it as a right he once had.“ (52)

In Kalkutta lernt er die Kurtisane Chandramukhi kennen (sanskr. „schön wie der Mond“), die sich in Devdas verliebt, während er im Alkohol ertrinkt. Chandramukhi wird zur Seele der Geschichte. An besseren Tagen vermag sie Devdas zu trösten, aber nach einer Irrfahrt durch Indien erinnert er sich an sein Versprechen an Parvati: „I will never forget this promise: if it makes you happy to take care of me, I will come. If it’s the last thing I do. I’ll come to you.“ (82)

Häufig verfilmt, 2002 mit den Hindi-Filmstars Shah Rukh Khan, Aishwarya Rai und Madhuri Dixit in einer aufwändigen und farbexplosiven Version, die mit ebenso opulenter Musik aufwartet, finde ich die neorealistische Schwarz-weiß-Version von 1955 mit Dilip Kumar schöner.

Allerdings findet die 2002er Verfilmung eine schöne Interpretation im Treffen Parvatis mit Chandramukhi, die im Buch lediglich mythologisch angedeutet wird. Wie in vielen Hindi-Filmen üblich, tanzen sie dann auch gemeinsam.

Eine aufwühlende Variation des Devdas-Themas zeigt übrigens der Film Leaving Las Vegas von 1995 (Nicolas Cage, Elisabeth Shue), ebenso bitter und packend bis zum Schluss.

(c) belmonte 2018

Saratchandra Chattopadhyay: Devdas. Aus dem Bengalischen ins Englische übersetzt von Sreejata Guha. Penduin Books, New Delhi 2002, 128 S.

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Von verrosteten Wurmlöchern und explosiven Halskrausen – Kai Meyer: Die Krone der Sterne (Buchrezension)

belmonte

Kai Meyers Roman Die Krone der Sterne ist rasante Space Fantasy, ein Pageturner mit erstklassigem Weltenbau, viel Liebe zum Detail und einem stimmigen Plot.

Das Buch ist sehr schön gestaltet, mit Himmelskarte, auf der die Regionen der Galaxis mit dem Kernreich, den Marken, den äußeren Baronien und dem sogenannten Katarakt verzeichnet sind.

Jens Maria Weber liefert ansprechende Zeichnungen (Interview siehe hier), zum Beispiel des wichtigsten Raumschiffes der Story, der Nachtwärts, einem halbmondförmigen Alleskönner. Ich vermute, es ist eine augenzwinkernde Verbeugung vor dem Millenium Falken. Die Greifer, kleine von Hexen ferngesteuerte Raumjäger, erinnern mich an Star Wars TIE Fighter, und die imperialen Sternzerstörer sind hier gigantische Weltraum-Kathedralen, die mich mit all ihren Statuen an den Mailänder Dom erinnern.

Kai Meyer: Die Krone der Sterne

Kai Meyer: Die Krone der Sterne

Vermutlich ist Die Krone der Sterne überhaupt voll von Zitaten, ich habe wahrscheinlich nur ganz wenige entdeckt. Die Stadt Djenja auf dem Planeten Nurdenmark erinnert an Mos Eisley auf Tatooine. Mir gefällt dieses Spiel sehr. Es bettet das Buch in einen Space-Fantasy-Kanon ein, dem ich einiges abgewinnen kann.

Auch die Raumschiff-Ästhetik ist schön getroffen, alles ist nach meinem Eindruck auf Retro-SciFi getrimmt:

„Auf dem Monitor wurde ihnen eine Richtung angezeigt, eine Flugbahn in einem dreidimensionalen Raster.“ (68)

Das hört sich sehr nach Vektorgrafik aus dem ersten Elite-Spiel an, das mich vor langer Zeit an den Monitor band, oder irgendwelche Bildschirmanzeigen aus alten Star-Trek-Folgen.

(Und wen Retro-SciFi interessiert, findet hier auf Twitter einen unerschöpflichen Fundus).

Raumschiffe und Raumschleusen (fabelhafter Einfall, um Wurmlöcher zu passieren) sind allesamt herrlich verrostet und heruntergekommen, gehen fast schon als Steampunk durch, weit entfernt jedenfalls von Edelchrom-Raumfahrt.

Die Story hat es in sich. Die junge Baroness Iniza hat kein Interesse, sich als Braut einer fernen Hexenkaiserin einzufinden. Kurzerhand flieht sie quer durch die Galaxis und sammelt einen einschlägigen Haufen aus Einzelkämpfern zusammen, die sich natürlich erst einmal allesamt überhaupt nicht ausstehen können. Der Kopfgeldjäger Kranit und die Alleshändlerin Shara Bitterstern, der zwischendurch eine explosive Halskrause entfernt werden muss, sind sehr schön gezeichnet. Auch eine hübsche Roboter-Muse ist bald mit von der Partie, und sie ist in der Lage, tausend Jahre schlafende Roboter-Armeen wiederzuerwecken und schlimme Dinge tun zu lassen.

Ich finde auch die Einbindung in eine lange Historie sehr beeindruckend mit einem vor tausend Jahren vom Hexenorden in den Bann geschlagenen Maschinenherrscher, der mit seinen Robotern ein noch älteres Reich erobert hatte.

Immer wieder ist von dem schwarzen Loch Kamastraka die Rede, das vor Ewigkeiten die Galaxis durcheinander gewirbelt hat. Dass dieses schwarze Loch im zweiten Band „Hexenmacht“ (erscheint im Februar 2018) noch weiter wirbelt, daran lässt Kai Meyer keinen Zweifel:

Ich freue mich jedenfalls schon sehr auf die Fortsetzung.

Die Krone der Sterne ist ein Plotroman, der viel Spaß macht und in dem alles stimmt. Dennoch zeigt er mir, dass es in der deutschsprachigen Belletristik einen Unterschied zwischen E- und U-Literatur gibt. Ich frage mich zum Beispiel, ob ein Roman wie Die Krone der Sterne mit tiefen, kontroversen und sich entwickelnden Charakteren geschrieben werden könnte. Stattdessen sind die auftretenden Personen Figurenmuster, die keine innere Entwicklung durchmachen, keine existenziellen Konflikte durchleben, keine verhängnisvollen Entscheidungen ausgrübeln. Auch die Dialoge haben keinen Selbstzweck, sondern führen den Plot voran. Kai Meyer ist ein Meister darin.

Ich frage mich, ob ich bereits Fantasy gelesen habe, in der ich komplexe Charaktere wahrgenommen habe. Auch in Der Herr der Ringe sind die Hauptpersonen weniger Bilbo, Gandalf oder Samweis sondern Mittelerde selbst, eine Welt, die in allen möglichen Charakterzügen von beschaulich, ungestüm, unterirdisch, geheimnisvoll bis mörderisch dargestellt wird. – Und ich bin tatsächlich der Überzeugung, dass Mittelerde Tolkiens eigentliche Hauptperson ist. –

In Star Wars lässt sich Charaktertiefe punktuell allenfalls in Anakin Skywalker – und vielleicht in Obi-Wan Kenobi – feststellen. Dass eine Person wie Anakin Skywalker in den neuen Disney-Filmen gänzlich fehlt, macht die neuen Folgen bei allem Augenschmauß erzählerisch belanglos.

Vielleicht muss ein Fantasy-Epos mit drei Familien, die in mehreren Generationen und zahlreichen Affiliationen die Weltgeschichte begleiten, erleiden und selber schreiben, ein phantastisches Krieg und Frieden mit lebensechten Personen, die mehr sind als Klebebilder, in der die Personen in ihrer Welt relevant sind und nicht eine Welt voller Personen, erst noch geschrieben werden. Geht Frank Herberts Wüstenplanet, der noch auf meine Lektüre wartet, womöglich in diese Richtung?

(c) belmonte 2018

Kai Meyer: Die Krone der Sterne. Fischer Tor, Frankfurt am Main 2017, 461 S.

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„Und ihr könntet doch Menschen sein …“ – Volker Weidermann: Träumer – Als die Dichter die Macht übernahmen (Buchrezension)

valentino

In seinem neuen Buch schildert Volker Weidermann die kurze, aber intensive Zeit der Münchener Räterepublik. Eine Gruppe von Dichtern nutzt die Gunst der Stunde, um die Macht zu ergreifen. Doch sie scheitern an der harten Wirklichkeit. Ihre humanistischen und pazifistischen Ideale bleiben.

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen

Gegen Ende des Ersten Weltkriegs erfasst eine Revolution Deutschland. In München ruft der Anführer einer Massendemonstration Kurt Eisner in der Nacht zum 8. November 1918 den Freistaat Bayern aus. Die Zeit ist reif für einen Neuanfang: Organe der Selbstverwaltung werden gebildet, bewaffnete Arbeiter und Soldaten besetzen Ministerien, der bayerische König Ludwig III dankt ab.

Eisner will ein Kriegs-Schuldbekenntnis Deutschlands sowie weitgehende Zugeständnisse an die siegreichen Alliierten. Es soll eine Verbindung aus parlamentarischer und Rätedemokratie eingerichtet werden. Die Landtagswahl wird für den 12. Januar 1919 angesetzt. Allerdings hat Eisner nach der Machtergreifung Feinde in zahlreichen Lagern: Neben Anhängern der Monarchie, Rechten, Antisemiten und Nationalisten auch Antidemokraten, gemäßigte und radikale Linke, Anarchisten und Kommunisten.

Kurz vor der Wahl gibt es unterschiedliche Ansichten zur Vorgehensweise. Eisner lässt seinen Mitstreiter Erich Mühsam verhaften. Es kommt zum Bruch innerhalb der Linken. Daraufhin verliert Eisner die Wahl. Als er auf der konstituierenden Sitzung des Landtags am 21. Februar seinen Rücktritt erklären will, erschießt ihn auf dem Weg dorthin Anton von Arco-Valley mit einem Revolver. Der junge Graf will durch den Mord seine Zugehörigkeit zur antisemitischen Thule-Gesellschaft beweisen, nachdem diese ihn zuvor wegen seiner jüdischen Mutter abgelehnt hatte. (94 f., 238)

In der Folge des Attentats gibt es Tumulte im Landtag, bei denen Eisners Gegenspieler Erhard Auer durch Schüsse verwundet wird. Offenbar hielt der Schütze ihn für den Drahtzieher des Eisner-Attentats. Eisner wird durch seinen Tod zur Symbolfigur der bayerischen Novemberrevolution. Thomas Manns Sohn Klaus schreibt über ihn ein Theaterstück.

Sowohl Räte als auch Parlament bestehen nach Eisners Tod fort. Allerdings entsteht ein Machtvakuum. Die Zustände sind anarchisch. Während die parlamentarischen Abgeordneten in Bamberg und Nürnberg über eine Regierungsbildung verhandeln, sind die Räte in München erste orientierungsstiftende Institutionen. Jedoch gibt es weiterhin Meinungsverschiedenheiten unter den Revolutionären. Weil Ernst Toller strikt gegen Gewalt ist, fragt Max Levien polemisch, wie man einen Eierkuchen machen könne, ohne Eier zu zerschlagen. (144)

Am 7. April 1919 ruft Gustav Landauer die Bayerische Räterepublik mit Toller als Regierungschef aus. Bereits eine Woche später wird gegen diese geputscht und es kommt zu blutigen Straßenkämpfen. Angesichts der Bedrohung sind Tollers pazifistische Ideale wertlos. Die Rotgardisten nehmen das Heft in die Hand und wehren unter dem Kommando Rudolf Egelhofers die Angriffe zunächst ab, unterliegen jedoch schließlich den von Truppen der Reichsregierung verstärkten Freikorpsverbänden.

In der Folge der blutigen Niederschlagung der Räterepublik wandelt sich Bayern während der Weimarer Republik zur reaktionären Ordnungszelle und bietet somit einen geeigneten Nährboden für den aufkeimenden Nationalsozialismus.

In Ernst Tollers Theaterstück „Die Wandlung“ heißt es:

„Und ihr könntet doch Menschen sein, wenn ihr den Glauben an euch und den Menschen hättet, wenn ihr Erfüllte wäret im Geist.“ (145)

Thomas Mann, der in dieser Zeit mit seiner Familie in München lebt, nimmt eine eher zwiespältige Rolle ein.

„Thomas Mann hatte in den letzten Tagen so etwas wie einen Mantel aus zeitentrückter Magie um sich gehüllt. Seine Idyllen-Stimmung. All das, der Pöbel, die Demokratie, der Krieg, die Niederlage, all das sollte ihn nichts angehen.“ (47)

Nachdem er anfänglich mit den Ideen der Revolutionäre sympathisiert (143), fordert er schon bald deren Köpfe (203) und sein Antisemitismus tritt offen zutage. (260 f.) Dazu passen auch der Bericht über eine peinliche Bruderschaft zu Hitler (227) und die Besuche des ultranationalistischen, feinnervigen Komponisten Hans Pfitzner. (41)

Weidermann sieht in der Figur des Hans Castorp aus dem „Zauberberg“ das Exempel eines Träumers: „Ein taumelnder Held zwischen den Mächten seiner Zeit“. (226) Ähnlich wie Mann selbst sei er für alles empfänglich und wandele auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Ich bin noch nicht an Thomas Mann herangekommen, obwohl ich seine Themen durchaus reizvoll finde. Seine aus meiner Sicht gestelzte Sprache hat mich bisher immer abgestoßen. Ich weiß noch nicht, ob sich meine Einstellung nach Weidermanns Lektüre wirklich geändert hat. Vielleicht starte ich ja nochmal einen Anlauf.

Aufgrund des dankbaren Stoffs mit sich überschlagenden Ereignissen und tragischen Helden, die schließlich an ihren humanistischen Idealen scheitern, kommt die Erzählung – eine gelungene Mischung aus Thriller und Tragikomödie mit dem Fokus auf München vor hundert Jahren – ohne fiktive Elemente aus. Anstelle der Auktorialen nimmt der Leser die Perspektiven der historischen Protagonisten ein. Wie in einem Prisma brechen sich die verschiedenen Blickwinkel auf die Ereignisse, die in einer verdichteten Form zugleich nuanciert und reduziert dargestellt sind. Auf diese Weise entsteht ein virtuoses, vielstimmiges Gebilde der Zeit, in der die Stimmung zwischen Euphorie und Ernüchterung schwankt.

Neben Rainer Maria Rilke und Oskar Maria Graf taucht auch Gusto Gräser auf. Unter seinem Pseudonym Emil Sinclair dient der „Apostel“ Gräser dem damals bereits namhaften Hermann Hesse als Vorlage für die Figur des Predigers Max Demian. (186 ff.) Hesse nimmt an der Revolution nicht teil, stattdessen geht er zum Schreiben in die Einsamkeit Tessins. (190)

Und dann gibt es noch Ret Marut (178 ff.), besser bekannt als B. Traven. Als Herausgeber der Zeitschrift „Der Ziegelbrenner“ und Mitglied des Zentralrats (250) kann er nach der Niederschlagung der Münchener Räteregierung – Gerüchte über Gräueltaten wie dem sogenannten „Geiselmord“ der Revolutionäre heizen einen erbarmungslosen Rachefeldzug gegen ihre Protagonisten und Anhänger an – nur mit viel Glück entkommen.

Herzlichen Dank an den Verlag Kiepenheuer & Witsch für die Zusendung eines Rezensionsexemplars.

(c) valentino 2018

Volker Weidermann: Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 288 S.

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Im zweiten Leben utopische Kunst – Nikita Afanasjew: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt (Buchrezension)

belmonte

Nikita Afanasjew: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt

Nikita Afanasjew: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt

Eines der Kriterien, die mir anzeigen, dass mir ein Buch gefällt, ist ein rasches Lesetempo. Wenn ich ein Buch zügig lese, bin ich jedenfalls erst einmal nicht davon genervt. Wenn ich dann am Ende, anders als bei einem Dan-Brown-Schmöker, nicht maßlos über die billige Auflösung enttäuscht bin, ist ein weiteres Merkmal für ein gutes Buch gegeben. (a) schnell gelesen, (b) am Ende nicht enttäuscht worden, beides trifft auf Nikita Afanasjews Debütroman Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt zu.

Das Buch ist schön gebunden, liegt gut in der Hand, erinnert irgendwie an die gebundene Ausgabe von Erich Kästners Emil und die Detektive, ist genauso urban (örbən) – ja, das ganze Buch riecht irgendwie örbən.

Jakob Ziegler ist ein erfolgloser Künstler, was ihn zu stören scheint, aber nicht zu sehr, denn Erfolg korrumpiert ja doch nur. Das Leben in Berlin ist schmutzig, Jakobs Beziehung zu Jolanda auf dem Nullpunkt, und mit Ben und Carlo ist es auch nur eine ständige Sauferei. Auf Kräne zu klettern und öffentliche Uhren zu zerdeppern, das kann noch nicht alles gewesen sein.

Also legt sich Jakob eine zweite Persönlichkeit zu: Johann Zeit, ein Mann mit allen Eigenschaften, ein Tausendsassa, der schon alles erlebt und alle Erdteile bereist hat. Ben informiert sogleich den umtriebigen Marketingprofi Dorian, der eben diesen Johann Zeit mit Performance-Kunst groß herausbringt. In einer der von Dorian angezettelten Aktionen wird die ganze Stadt mit kriegswaffenkritischen Graffiti zugesprayt, gez. Johann Zeit. In ganz Berlin und darüber hinaus und vor allem in den sozialen Netzwerken fragt man sich, wer dieser Johann Zeit sei, der in der Folge mehr und mehr ein Eigenleben führt.

Jakob gelingt es, einige seiner künstlerischen Arbeiten unter dem Namen Johann Zeit bei der Kunstschau „Utopian Art“ unterzubringen. Wie dann die Ausstellung – untergebracht in einer Stadt aus Zeltplanen und Pavillons – im Chaos der Performance-Redner und arrangierten Demonstrationen untergeht, ist exzellent dargestellt. Hier wie anderswo trifft Afanasjews Dialogduktus die Szenerie ganz hervorragend.

Jakob ist illusionslos. Alles wurde längst hinterfragt. Selbst Protest und Gegenkultur sind schon Teil der Verwertungskette geworden und stoßen ihn ab. „Sicher, er mochte Deutschland nicht besonders, den Neid, das provinzielle Gehabe, all das zwanghaft Fleißige. Vor allem mochte er nicht, was in diesem Land aus der Freiheit geworden war. Sie war so lange von Lackaffen in modisch einwandfreien Anzügen missbraucht worden, dass sie nun halb tot in einer Seitengasse lag, neben einer Mülltonne, und die Menschen eilten an ihr vorbei, um ja nicht zu spät zur Arbeit zu kommen, sonst gäbe es noch Ärger …“ (106)

Das Buch ist ein Statement zu den Urban Thirties, einer abgeklärten, desillusionierten und enttäuschten Spätjugend, die es nicht mehr schafft, irgendeinen urbanen Traum zu leben, in einem Berlin mit all seinen Abhängplätzen und bekannten Locations, Landwehrkanal und so. (Oder ist womöglich genau das der urbane Traum?)

Was hat es mit dem Titel des Buches auf sich? Es geht um einen Brief, den Jakob vor Jahren – an sich selbst adressiert – Ben übergeben hatte und den Ben pünktlich zu Jakobs dreißigstem Geburtstag einwirft, eine Nachricht mit nur wenigen Worten:

„Wenn ich das lese, bleiben mir drei Optionen: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt.“ (9)

Wie das Buch ausgeht, wird an dieser Stelle natürlich nicht verraten.

(c) belmonte 2017

Nikita Afanasjew: Banküberfall, Berghütte oder ans Ende der Welt. Voland & Quist, Dresden und Leipzig 2017, 303 S.

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Science Fiction, What if … Licht (Werkstatt)

belmonte

Gabriel Hardman, Corinna Bechko, Invisible Republic, Volume 1

Gabriel Hardman, Corinna Bechko, Invisible Republic, Volume 1

Auch den ersten Band der Comic-Reihe Invisible Republic von Gabriel Hardman und Corinna Sara Bechko habe ich nun beendet. Das Konzept gefällt mir, die Zwei-Zeiten-Struktur ist gut aufgebaut, auch der Hard-Science-Fiction-Charakter spricht mich an, ich bin aber doch nicht sicher, ob Ansätze der Begeisterung für die nächsten Bände ausreichen. Der Film Children of Men hat mir außerordentlich gut gefallen (Open-Air-Sommerkino in Monopoli, Provinz Bari), aber ich doch sehr froh, dass er keine Fortsetzung hat. Seitdem ich allerdings diesen Film gesehen habe, kommt mir London, wohin ich regelmäßig reise, genau so vor: Alles irgendwie grau und gedrängt und dreckig und kein neues Leben mehr. Pop-Musik der Achtziger Jahre:

All around me are familiar faces | worn out places | worn out faces. | Hide my head | I want to drown my sorrow | no tomorrow | no tomorrow. | The dreams in which I’m dying | are the best I’ve ever had.

Nächstes Jahr werde ich endlich die re:publica besuchen, so viele Vorträge, die mich bloß noch neugieriger machen, Science Fiction als Geisteshaltung von Katja Böhne gibt einen exzellenten Überblick über aktuelle Science-Fiction-Literatur und mehr. Christian Zöllner stellt sein Designkonzept From Fiction to Action vor, und Eden Kupermintz zieht in The Ocean of Dreams ganz lange Linien.

Ab sofort gibt es für mich keine Genres in der Literatur mehr.

– Science Fiction läuft unter „What if …“.
– Alle anderen Literaturen fallen für mich ebenfalls unter „What if …“.
– Ist nicht Fantasy ebenso „What if …“?
– Und auch der realistische Roman ist ein „What if …“.
– Gewissermaßen ist sogar eine historische Dokumentation ein „What if …“.

– So war es.
– Wirklich?
– Jedenfalls sagen das die Quellen.
– Sagen sie das?
– Jedenfalls wäre es so gewesen, wenn die Quellen recht hätten.
– Aha!
– Was wäre, wenn die Quellen recht hätten?
– What if …
– Ist dann Tolstois Krieg und Frieden Fantasy?
– Ja, natürlich.
– Ist Tolkiens Herr der Ringe ein realistischer Roman?
– Ja, klar, magischer Realismus.
– Und Star Wars?
– Nun ja, vor langer, langer Zeit eben.

Wenn du erkennst – und wenn du erkennst, dass du vom Licht bist – dann setzt du dich selbst in Stand. Durch dieses Aufsetzen änderst du dich selbst. Da du aber selbst vom Licht bist, ändert sich das Licht, dass du erkennst. Also ändert sich im Erkennen Erkennendes und Erkanntes in eins. Erkennendes und Erkanntes sind dann eins.

Ich selbst bin im großen Licht und bin Licht, und das Licht ist eins mit mir und in mir. Ich bin das andere, und ich bin die andere, und ich bin im anderen, und das andere in mir und ich bin du.

(c) belmonte 2017

Gabriel Hardman, Corinna Bechko: Invisible Republic. Volume 1. Image Comics, Berkeley, CA 2015, 128 S.

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Seenot, Plotlosigkeit und Gesichtserkennung (Werkstatt)

belmonte

Immer mehr NGOs ziehen sich mit ihren Seenotrettungsschiffen aus dem Mittelmeer zurück, da die italienische Regierung ihnen Kollaboration mit Schleppern vorwirft und sie zur Unterzeichnung eines Verhaltenskataloges zwingt, der dem Sinn und Zweck von Seenotrettung widerspricht. Aus meiner Sicht ist das eine Jämmerlichkeit der italienischen Politik, mehr noch aber ein jämmerlicher Mangel an europäischer Zusammenarbeit. Ich weiß allerdings auch nicht, ob ich das alles viel besser lösen würde.

Larry Brown: Fay

Larry Brown: Fay

Schnelle Lektüre von Larry Browns Südstaaten-Roman Fay. Die noch nicht ganz volljährige Fay verlässt ihre verwahrloste Familie und schlägt und schläft sich mit einigen Stationen an die Golfküste durch. Das Buch kommt nicht ganz an Joe R. Lansdale heran, längst nicht an Cormac McCarthy, ist aber eingängig zu lesen. Ich verstehe nicht ganz, was erzählt wird, was mir nicht andere schon erzählt haben. Einige Charakterisierungen finde ich nicht sehr glaubwürdig, innere Monologe bleiben gelegentlich im Ansatz stecken, Dreck wird an einigen Stellen sichtbar, aussichtsloses Treibenlassen und ein paar schlimme Morde und andere Tötungen. Mich hätte aber interessiert, wie das Buch von einer Schriftstellerin ausgefallen wäre. Ich werde schauen, welche Southern-Gothic-Autorinnen ich noch entdecken kann. Verbindendes Merkmal all dieser US-Südromane (McCarthy, Lansdale, Brown etc.) ist das scheinbar planlose (plotlose) Dahintreiben der Handlung, viele unwichtige Dinge passieren, ich frage mich, warum hat der Autor das eingebaut, aber es ist echtem Leben nachempfunden, zig Sachen, die heute passiert sind und für meinen eigenen Tagesplot (wie bitte?) völlig unbedeutend sind, aber eben geschehen sind („Ich stelle noch eben die Butter zurück in den Kühlschrank.“), hier werden sie bedeutungslos miterzählt.

Bei Larry Browns Fay hat mir die Geschichtslosigkeit nicht gefallen. Man kann das einem Roman eigentlich nicht vorwerfen, aber zur Zeit gefallen mir Bücher besser, die in einen historischen Rahmen eingefasst sind. Grossmanns Leben und Schicksal war von der Sorte. Tomasi di Lampedusas Gattopardo ebenso. Auch in der Fantasy fordere ich historischen Hintergrund ein. Tolkiens Herr der Ringe ist übervoll davon. Auch Mitchells Vom Winde verweht steht auf meiner Liste, obwohl es seit einiger Zeit in den USA als sehr gestrig gebrandmarkt wird.

17. August 2017

Abends lese ich die Nachrichten aus Barcelona, den schrecklichen Anschlag auf den Ramblas, diesmal kein Angriff auf ein Land oder eine Stadt sondern auf viele Nationalitäten. So schlimm es ist, es schweißt zusammen, zumindest über die sozialen Medien, obwohl noch viel mehr Gesichtserkennung aufgebaut werden dürfte, scheinbare Sicherheit, fast schon ein strukturelles Agreement zwischen Terroristen und westlichen Postdemokraten. Trump übertrumpft sich mal wieder selbst, man kann seine Tweets schon gar nicht mehr ernsthaft kommentieren.

(c) belmonte 2017

Larry Brown: Fay. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Wilhelm Heyne Verlag, München 2017, 652 S.

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Rechte Sesselfurzer, Menschlichkeit und Epik (Werkstatt)

belmonte

Auf Facebook bin ich mit Horst Samson befreundet, der genau wie ich im Pop-Verlag publiziert, vor Jahrzehnten aus Rumänien nach Deutschland gekommen ist und seit längerer Zeit auf Facebook gegen Flüchtlinge, Islam, vermeintliche Indifferenz der Politik und Staatsversagen polemisiert. Ausgangspunkt ist häufig ein wie auch immer passender Zeitungsartikel, der sich natürlich immer findet und die vorausgesetzten Fakten liefert. Ich finde diese Verhärmtheit, die sich als Abgeklärtheit ausgibt, erbärmlich (und würde gerne den Zusatz „unter Schriftstellern“ vermeiden), Verbitterung mit gesteigerter Verschlossenheit, die in schlechten Nachrichten immer nur sich selbst erkennt.

Horst Samson auf Facebook

Horst Samson auf Facebook

Da wird irgendein Artikel geteilt, in dem Flüchtlinge (natürlich synonym für: Terroristen) als gefährlicher als Nazis bezeichnet werden, worauf sich augenblicklich die Follower-Glocke an rechten Sesselfurzern, die nie aus ihrer Mulde herausgeschaut haben, zu Wort meldet. Dabei hat Samson vor Jahrzehnten selbst Aufnahme gefunden, jetzt will er womöglich besonders deutsch sein. Es ist läppisch. Was mich zuversichtlich macht: Rechte Schriftsteller fallen erfahrungsgemäß reihenweise der Vergessenheit anheim. Ich frage mich aber, ob Nichtbeachtung die bessere Strategie wäre.

Es ist jetzt schon über einen Monat her, dass ich Wassili Grossmanns Leben und Schicksal ausgelesen habe, das mich am Ende sehr beeindruckt hat. Es ist ein Krieg und Frieden der Stalingradschlacht mit unglaublicher Eindringlichkeit in der Darstellung der deutschen Vernichtungsindustrie. Viele Personen sind mir ans Herz gewachsen. Es ist schwierig, unschuldig zu bleiben, aber unter den Schuldigen machen sich viele sehr schuldig. Menschlichkeit ist dennoch der einzige Ausweg und Lichtblick. Kern des Werkes ist eine Phänomenologie der Menschlichkeit, die im Mahlstrom der zerstörerischen Gesellschaftssysteme und Ideologien immer wieder durchleuchtet. Es war „dem Weltschicksal, dem verhängnisvollen Lauf der Geschichte, dem Zorn des Staates, dem Ruhm und der Schmach im Schlachtengetümmel doch nicht überlassen, die Wesen zu verändern, die sich Menschen nannten. Was immer sie erwartete – Ruhm für ihre Leistungen oder Einsamkeit, Verzweiflung und Elend, Lager und Hinrichtung –, sie würden als Menschen leben und als Menschen sterben, und jene, die umgekommen waren, hatten es geschafft, als Menschen zu sterben.“ (1037)

Wassili Grossmann

Wassili Grossmann / Foto: Unbekannter Fotograf (Public domain)

Ich habe Wassili Grossmann erst spät entdeckt. Er gehört für mich in dieselbe Riege der großen russischen Romanautoren des 20. Jahrhunderts wie Pasternak, Bulgakow und Bunin, ein Dichter, dessen Werk von tiefer Epik durchdrungen ist. Gerade habe ich Grossmanns ebenso umfangreiches Vorgängerwerk Wende an der Wolga in der Post gefunden. Es ist ein wunderbares Gefühl zu wissen, dass dieses Buch noch vor mir liegt.

Epik ist das Erscheinen eines hellen Sternes im finsteren All, der immer näher kommt und nach und nach immer mehr Details und Personen und Schicksale erkennen lässt und daran teilhaben lässt und Freiheit und Verhängnis und den Kampf in diesem Verhängnis miterleben lässt und am Ende unvermittelt wieder herauszoomt und sich in den Weiten des dunklen Alls verliert. Von genau dieser Art ist Tomasi di Lampedusas Gattopardo, der in den beiden zwanzig bzw. fünfzig Jahre nach der Haupthandlung angefügten Schlusskapiteln den entschwindenden Stern sogar in der Kapitelstruktur sichtbar werden lässt.

Ich mag deshalb das Theater sehr, weil es mich an diesem hellen Stern aus einem dunklen Raum heraus teilhaben lässt. Womöglich bin ich auch deshalb ein begeisterter Science-Fiction-Leser.

Ich beobachte auf Twitter und Facebook das Phänomen, dass Leute Markenprodukte (z. B. Strohhalmgetränke) zu ihrem Erkennungsmerkmal machen, dabei aber nicht merken, dass sie sich selbst zum Konsumierten machen und von der Marke gemacht werden.

(c) belmonte 2017

Wassili Grossmann: Leben und Schicksal. Aus dem Russischen übersetzt von Madeleine von Ballestrem, Arkadi Dorfmann, Elisabeth Markstein und Annelore Nitschke. Claassen, Berlin 2007, 1084 S.

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Wassili Grossman. Wende an der Wolga. Aus dem Russischen übersetzt von Leon Nebenzahl. Dietz, Berlin 1958, 927 S.

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Ein Schatz, den man gerne mit sich trägt – Freddy Mork: Verlorene Märchen (Buchrezension)

Wir freuen uns über eine Rezension unserer Gastautorin Katharina Dück, Mitbegründerin des Heidelberger Dichterkreises KAMINA.

Freddy Mork: Verlorene Märchen

Freddy Mork: Verlorene Märchen

Die zauberhaften Welten der Märchen unserer Kindheit tragen wir alle in uns. Wir erinnern uns an sie in Zeiten von Freundschaft und Liebe, von Betrug und Übervorteilung und vielleicht auch in Zeiten von Unerklärlichem; orientieren uns bisweilen sogar am Verhalten unserer Märchenfiguren oder träumen von Prinzen auf weißen Pferden, von ungeheurem Reichtum oder davon, unverhofft zu Glück zu kommen, oder als einfache Person die Welt zu retten und die schöne Prinzessin zu heiraten. Dass wir uns diese Märchen überhaupt zu eigen machen können, liegt schlichtweg zunächst daran, dass es einmal jemanden gab, der es für wichtig hielt, „diese Märchen festzuhalten, da diejenigen, die sie bewahren sollen, immer seltener werden […]“, so die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm in der Vorrede zu ihrer Märchensammlung von 1812. Der Mythos, „den man für verloren gehalten“ (1815, Vorrede zum 2. Band) hatte, sollte erhalten und falls verloren, so gesucht werden.

Von einem solchen wild entschlossenen wie unermüdlichen Sucher namens Julius, der in der Manier von Carrolls Alice im Wunderland durch eine Bodenöffnung hinein ins „Reich der Märchen“ fällt und die verschollenen Märchen finden will, handelt Freddy Morks Verlorene Märchen. Auf seiner Abenteuerreise gesellen sich dem mutigen Julius nach und nach recht ungewöhnliche Gefährten: der schlaue Haule Jiwig, der verunsicherte Wolf Wisp, der sensible Stein Oskar und die aufgeweckte namenlose Fee. Sie unterstützen den Menschenjungen bei seinem nicht ganz ungefährlichen Unternehmen durch die fantastische Welt der Märchen, werden geschrumpft, mit blauer Tinte übergossen, wandeln auf Regenbögen, sie kämpfen gegen Wolkenpiraten und bewähren sich schließlich – dem Geheimnis um die verlorenen Märchen immer näher kommend – als Freunde.

Freddy Mork: Verlorene Märchen (Leseprobe)

Freddy Mork: Verlorene Märchen (Leseprobe)

Als Leser begleitet man dieses Abenteuer, bei dem ein Höhepunkt den anderen jagt, mit nahezu atemlosen Vergnügen. Mit viel fantasiereicher Liebe zum Detail entwirft Mork eine magische Märchenwelt, welche die eigene Vorstellungskraft immer wieder anregt, ja herausfordert wie beispielsweise im Kapitel Ein schüchternes Gespräch – eine der schönsten Passagen im Buch: Die fünf Gefährten überwinden ihre dunkelste Stunde, indem sie sich zum dunkelsten Ort begeben, um mit der Sonne zu sprechen, und passieren die Landschaft der Tausende Seen. Es soll die Dunkelheit durch Dunkelheit überwunden werden, während tausende glitzernde Seen als Indikator der Bewältigung und Vorboten der Sonne vorausgeschickt werden, die schließlich Licht ins Dunkel eines wohl gehüteten Geheimnisses bringt.

Freddy Mork / Foto: Freddy Mork

Freddy Mork / Foto: Freddy Mork

Sehr einfallsreich und höchst geschickt kleidet Freddy Mork sein Buch über die verlorenen Märchen selbst in das Gewand eines Märchens und komponiert dadurch ein eigenes Kunstmärchen, in dem man durchaus auch bekannten Märchen bzw. Märchenfiguren begegnet. Seine Sprache ist dabei wunderbar klar, zugleich sehr lautmalerisch und dadurch lebendig: Man findet hierin noch Wörter wie „knirschen“, „gezetert“, „knarzen“ und „Gemurmel“. So passt Mork auch die Sprache seiner übernatürlichen und wunderbaren Märchenwelt an und bereitet auch auf dieser Ebene unglaubliches Lesevergnügen. Erst nach und nach werden Geheimnisse um die Märchenwelt und ihre Figuren enthüllt, während die Spurensuche nicht selten durch die ebenso eindrucksvolle wie ungewöhnliche Illustration von Dominik Schmitt unterstützt wird. Schmitt versteht es, Morks geheimnisvolle Welt der Verlorenen Märchen abzubilden oder vielmehr so anzudeuten, dass genug Raum für die eigene Vorstellungskraft bleibt, oder auch schon mal übertrifft wie in der grandiosen Zeichnung des Wolkenpiratenschiffs.

In seinen Bann zieht Freddy Morks zauberhaftes Märchen von der ersten Seite an bis hin zur letzten; es bewegt und überrascht, erschrickt und empört, und regt zum Nachdenken an über Themen wie Freundschaft und Mut, Überwindung seiner Schwächen und auch darüber, was eigentlich ein Schatz sei. Schließlich wird das Buch selbst zum Schatz, den man von nun an gerne mit sich trägt. Wenn das mal kein gelungener Fund für die Brüder Grimm gewesen wäre …

(c) Katharina Dück 2017

Freddy Mork: Verlorene Märchen. Illustrationen von Dominik Schmitt. Brot & Kunst Verlag, Neustadt an der Weinstraße 2016. 248 Seiten. 14,95 EUR.

Eine markerschütternde Rhapsodie des Todes – belmonte: Sitte und Sittlichkeit im ausgegangenen Jahrhundert (Buchrezension)

Wir freuen uns über einen Beitrag unseres Gastautors Manuel Beck, Autor des Lyrikbands Am Ende November.

belmonte: Sitte und Sittlichkeit

belmonte: Sitte und Sittlichkeit

belmonte weiß mit seinem Buch Sitte und Sittlichkeit vor allem zweierlei: zu überraschen und zu schockieren.

Überrascht wird man durch die Diskrepanz von Aufmachung und Inhalt. Der Titel des Buches lässt auf eine trockene gesellschaftshistorische Abhandlung schließen. Durch den Titelzusatz im Innenteil erfährt der Leser, dass es sich um einen „Versroman in zwölf Lektionen“ handelt; der Genrevermerk „Lyrik“ auf dem Umschlag ist dagegen leicht zu übersehen. Dieser wird zu zwei Dritteln dominiert von dem durchweg in Großbuchstaben gehaltenen Aufdruck: „GROB UND SCHLACHT MAL FEIN UND ZISELIERT WOANDERS“ [bezieht sich auf das Cover der Printausgabe, Anm. der Red.]. Eine solch kryptische Wortfolge mag die Neugier wecken, mich hat sie irritiert.

Beginnt man dennoch mit dem Lesen der ersten Lektion, wird der Zugang weiterhin erschwert durch die zunächst altertümliche, biblisch anmutende Sprache. Passenderweise ist die Rede von Himmel, Erde und Gott. Wohin die Reise gehen soll, bleibt zunächst unklar. Der Stil wandelt sich jedoch schon bald zu einer leichter zugänglichen Alltagssprache und die dritte Lektion gibt bereits einen plastischen Vorgeschmack auf das, was folgt: eine markerschütternde Rhapsodie des Todes!

Der Text ist durchweg in stakkatohaften Trochäen gehalten, welche die Wucht des verstörenden Geschehens metrisch noch verstärken. Der Ich-Erzähler selbst liefert die Begründung für die Wahl dieser festen Form: dem Geist einen Halt zu geben angesichts des haltlosen Grauens, von dem er auf Geheiß seines Herrn Zeuge werden und berichten muss – als Strafe für seine Zweifel an der Wahrhaftigkeit Gottes.

Was sich nun entspinnt, ist nichts für schwache Nerven. In erbarmungslosen Sequenzen werden Krieg und Genozid geschildert, deren verstörende Deutlichkeit im krassen Gegensatz zum eingangs erwähnten Coverzitat steht. Leser und Erzähler kommen kaum zur Ruhe, werden gehetzt und getrieben, der Allmacht und Rachsucht Gottes allzeit gewahr. Dieser scheint uns die schlimmsten Verbrechen der Menschheit anklagend vor Augen zu halten und uns gleichsam mit der Fähigkeit zu Einsicht und Mitgefühl zu strafen, durch die uns jene erst bewusst werden.

Im Nachgang mag auch die schwarz rot weiße Farbgebung des Umschlags bedeutsam erscheinen und an die Reichsfarben Hitlerdeutschlands gemahnen. Zwar werden Täter und Opfer nicht konkret benannt, sind angesichts des Buchtitels und des Geschehens aber unschwer zu identifizieren.

Die Existenz seines Schöpfers zieht der Protagonist zuletzt nicht mehr in Frage, findet in ihr gar Trost im Angesicht der eigenen Vergänglichkeit. Noch unter der Wirkung des nach Seinem Willen erlebten Wahnsinns stehend, scheint uns dies jedoch ein zweifelhafter Trost zu sein.

(c) Manuel Beck 2017

belmonte: Sitte und Sittlichkeit im ausgegangenen Jahrhundert – Versroman in zwölf Lektionen. tolino media, München 2016, 72 S. Ursprüngliche Printausgabe erschienen bei Pop-Verlag, Ludwigsburg 2008.

belmonte: Sitte und Sittlichkeit im ausgegangenen Jahrhundert (EPUB) erhältlich bei Thalia.de.

Link zum Datensatz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek