Der Mann von La Mancha – Letzter Glanz der Traumfabrik oder unmöglicher Traum? (Filmrezension)

Man of La Mancha

Gastrezension von Tonio Klein, Autor unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Musical // Nach dem phänomenalen Erfolg von „Meine Lieder, meine Träume“ (1965) bäumte sich Old Hollywood ein letztes Mal zu prächtigen Musical-Großproduktionen auf, welche aber mit Ausnahme von „Funny Girl“ (1968) ohne oder mit unter den Erwartungen liegendem Erfolg liefen. Die 1970er-Jahre schienen angesichts von Vietnamkriegsprotesten und Gegenkultur nicht mehr die Zeit fürs hoch budgetierte Überwältigungskino zu sein, wozu ich mich am Beispiel von Blake Edwards’ so gnadenlos geflopptem wie unterschätztem „Darling Lili“ kürzlich in „70 Millimeter“, Heft 2, äußern durfte. „Der Mann von La Mancha“ hingegen ist eine europäisch-amerikanische Angelegenheit, die zwar ebenfalls gemischte Kritiken erhalten hatte, bei der aber ein genauer Blick lohnt.

Ist der Verstand auch im freien Fall …

Hierbei geht es nicht um eine Verfilmung des berühmten Romans „Don Quixote“ von Miguel de Cervantes, sondern um die Adaption des Theatermusicals „Der Mann von La Mancha“ (1965) von Dale Wasserman (dramatischer Text), Mitch Leigh (Musik) und Joe Darion (Liedtexte). Dieses war auch in Frankreich äußerst beliebt und bekannt, hatte doch der immens populäre Sänger Jacques Brel 1968 die Übersetzung besorgt und die Hauptrolle gespielt. Nicht unter französischer, sondern unter italienischer Ägide fand die Produktion für den US-Verleih United Artists statt (heute zu MGM gehörend, weswegen nun auf der DVD der Löwe zu sehen ist), welche erkennbar gleichermaßen auf den amerikanischen und europäischen Markt zielt. Ein gebürtiger Kanadier (Arthur Hiller) führte Regie, ein Weltstar irischer und einer italienischer Herkunft (Peter O’Toole und Sophia Loren) übernahmen die Hauptrollen – alle drei mit Hollywood-Erfahrung. Kann man sich wenigstens dann von Zuschreibungen wie Old Hollywood und New Hollywood lossagen? Ja – unter anderem natürlich, weil es eben kein reiner Hollywood-Film ist. Aber es klappt auch aus anderen Gründen.

Die Handlung: Theater als Imagination

Die zumindest im Groben auch Nichtkennern des Romans bekannten Eckdaten binden Stück und Film in eine doppelbödige Rahmenhandlung ein. Miguel de Cervantes (Peter O’Toole) höchstselbst wird von der Spanischen Inquisition eingekerkert. In der Massenzelle haben die Mitgefangenen einen gesellschaftlichen Mikrokosmos errichtet, in dem sich der Neue zu bewähren und vor einem improvisierten Tribunal seine „Verteidigung“ vorzubringen hat. Wessen er angeklagt ist, wird eher indirekt klar – ein Poet, der dem Schmutz und der Ungerechtigkeit der Welt nicht ins Auge sieht, ist in harten Zeiten halt suspekt. Vor diesem Hintergrund ist Cervantes’ Plädoyer eine Vorwärtsverteidigung, denn er inszeniert mit den Kerkergenossen die Geschichte eines seligen Toren, eben Don Quixotes, in dessen Rolle er auch gleich schlüpft. Am Ende bleibt offen, ob er sich ebenso eindrucksvoll vor den Inquisitoren wird verantworten können, aber wenn das Ganze mit der Reprise des berühmtesten Liedes des Stücks, „The Quest (The Impossible Dream)“, endet, ist klar, worum es Cervantes, Stück und Film geht.
Dabei scheint die Konstruktion zunächst prädestiniert für das Medium des Theaters. Der Film hat nicht die Traute, die komplette Zeit in der Zelle spielen zu lassen oder mit als theaterhaft erkennbaren Kulissenschiebereien zu arbeiten. Er hüpft per Schnitt in die wirkliche Welt des Don Quixote, visualisiert also das Imaginierte. Mein geschätzter Kollege Lars Johansen meint in seiner Rezension im oben angegebenen Heft: „Hiller nutzt die Kerkerkulisse nicht als den offenen Raum, der sie eigentlich ist.“ Das kann man so sehen, aber Hiller beschwört das Hyperrealistische auch nicht mit dem Holzhammer herauf. Der ikonischen Szene mit dem Kampf gegen Windmühlenflügel entledigt er sich recht flott zu Beginn; dort sehen wir ein realistisches Setting und blauen Himmel.

… so ziehen und machen sie einfach weiter

Hiernach wechselt der Don-Quixote-Handlungsstrang recht schnell zu seinem Hauptschauplatz, einer schäbigen Herberge, die der eingebildete Ritter aber für ein edles Schloss hält. Und Aldonza (Sophia Loren), die dort einer recht derben Kundschaft Speis, Trank und ihren Körper serviert, hält er für die Edelfrau Dulcinea.

Sie sieht die schmutzige Welt, er sieht nur Dulcinea

Dort nun sieht es völlig anders aus als in der Windmühlenszene. Außer nächtens ist der Himmel von einem schimmeligen Rosagrau, und es ragen ein paar dünne Zweiglein ins Bild wie eine Studiokulisse. Die Herberge dominiert alles, einen Panoramablick auf die Gegend bekommen wir nie geschenkt. Mein Rechercheeifer hält sich in Grenzen, denn es kommt nicht darauf an, ob das künstlich war, sondern darauf, dass das künstlich aussieht. Und das gereicht diesem Stoff natürlich zum Vorteil. Auch bei der Kostümierung leistet das Werk sich etwas, das eigentlich eine filmische Sünde ist, hier aber das Gegenteil. O’Toole als Don Quixote trägt falsche Glatze mit Perücke und einen falschen Bart, um in seiner Rolle älter auszusehen. Das klassische Theaterutensil ist für das Medium Film eigentlich viel zu dick aufgetragen, unterstreicht hier aber das Theaterhafte, was als „Theater im Theater“ (bzw. Theater im Film) ja vorgegeben ist. Man könnte auch sagen, O’Toole ist bis zur Kenntlichkeit verkleidet, und das ist gut so.

Vorhang auf – vor allem für Sophia Loren!

„Der Mann von La Mancha“ ist geschickt darin, mit seinen Stars umzugehen. Was O’Toole betrifft, nutzt er einen Verzögerungseffekt, indem er ihn als Cervantes zunächst mit Maske auftreten lässt, als Gaukler in einer kleinen Stadt, bevor er verhaftet wird. Was Signorina Loren betrifft, dehnt die Regie ihre Einführung noch deutlicher. Sagen wir es offen, ich habe eine Schwäche für sie. Und es ist verdammt schwierig, Personen im Film in Szene zu setzen, die beides sind: Star und Ikone, sofort erkennbar – aber auch Schauspieler, fähig, in andere Rollen zu schlüpfen. Das gelingt dem Film verdammt gut. Wir sehen zunächst nur ein paarmal ganz kurz ihr stummes Gesicht als eine Mitgefangene und wissen natürlich sofort: Das ist sie. Ja, sie hat nicht nur eine Figur, sondern auch ein Gesicht. Wenn sie dann als Kellnerin und Hure auftritt, scheut sich der Film hingegen nicht, das Klischee ihrer Traumkurven zu bedienen, mit einem Ausschnitt, der, nun ja, tief blicken lässt. Man mag ihre Darstellung, ihren aggressiven lebensangeekelten Gesang zumal, für forciert halten. Dabei sieht man jede Sekunde: Das ist nicht eine, die sich hinter der Rolle komplett unsichtbar macht, das ist die Loren, und natürlich ist die dreckige Hure eine Schönheit unter dem abgewetzten Gewand, äußerlich wie innerlich. So etwas ist gerade bei weiblichen Filmschönheiten immer ein schmaler Grat, aber es geht auf, aus zwei Gründen: Erstens passt ihr offensichtlich sehr kalkuliert eingesetztes Image wunderbar zum Hauptthema des Filmes: Cervantes/Quixote malen sich die Welt, widdewidde, wie sie ihnen gefällt. Und in Quixotes Augen wird Aldonza zu Dulcinea. Was sie erst nervt und die Fassung verlieren lässt, dann beeindruckt und empathisch macht. In der Loren stecken Ikone und Schauspielerin – und eben auch Aldonza und Dulcinea.

Wenn er sich geschlagen gibt, dann nur zum Ritter

Zweitens sind es gegen Ende die Szenen mit ihr, die sehr stark nur ihr Gesicht betonen, und man kann nun sehen, was sie für eine ausdrucksstarke Darstellerin ist – auch wenn die Theaterschminke aus genannten Gründen mal wieder (sicherlich bewusst) bis zur Schmerzgrenze eingesetzt wurde. Vor allem die blass geschminkten Lippen, welche gegen Ende auch O’Toole zieren – und von übertrieben blutroten Augen bei so manchem wollen wir gar nicht erst reden.

Ritterschlag für einen Film

Klassische Musicals (also mit Gesang, unsichtbarem Orchester und ein bisschen Tanz in Situationen, in denen das nicht der Handlungsrealität entspricht, anders als in Filmen über Showstars) muss man mögen, sonst ist man hier rettungslos verloren. Dies ist bei allem Lob kein Film, der geeignet ist, Genreverächter zu bekehren. Genregenießer indes bekommen so manches geboten, wenngleich nicht O’Tooles original Singstimme. Die Musik verbindet das Orchestrale mit dem Spanisch-Folkloristischen, wobei wieder einmal deutlich wird, welche Spuren auch die arabische Musik auf der iberischen Halbinsel hinterlassen hat (vor allem erkennbar an einem markanten Eineinhalb-Tonschritt im „arabischen Moll“). Die Songs sind sämtlich von diesem Lokalkolorit geprägt, ohne sich zu sehr zu wiederholen, und sie schütten die ganze Angelegenheit nicht dermaßen zu, dass nicht noch Platz für das Drama wäre. Besonders zu gefallen vermag, dass gelegentlich das Verspielte mit dem Dramatischen zu einer Einheit verschmilzt, gerade beim Tänzerischen. Während beispielsweise – auch ein interessanter Ansatz – Robert Wise und Jerome Robbins den maximalen Kontrast suchten (meisterhaftes Tanzen in realistischer Kulisse in der filmischen Adaption der „West Side Story“), ist dem vorliegenden Film eher an einer Synthese gelegen. Die Crew kann recht ordentlich tanzen, stellt ihre Kunstfertigkeit aber nicht übermäßig heraus, und eine „Schlacht“ (also eher eine Klopperei) ist in einem gewissen Maße auch tänzerisch, ohne das Artifizielle auf die Spitze zu treiben.

Per Treppe aus der grausamen in eine andere Welt

Natürlich wird auch gesungen, wenn Quixote nach seinem „Sieg“ zum Ritter geschlagen wird, und dann bilden der schon vorher mit Quixote verbundene Sancho Pansa (James Coco), Aldonza/Dulcinea und der Gastwirt (Harry Andrews) endlich eine Einheit. Quixote und Dulcinea als Paar? Zumindest als Team. Danach geht die Geschichte noch ein gutes Stück weiter, und wenn die Verwandten, In-spe-Verschwägerten und der Priester aus Quixotes Heimat den „Ritter“ per symbolischer Selbstbespiegelung als Gespaltenen vorführen und von seinem Wahn kurieren wollen, wird auch dem Letzten klar: Selig sind die Verrückten in einer grausamen Welt, an deren Sinn man sonst verzweifeln könnte. Das kann man mögen oder nicht. Wenn die Loren perfekt auf Knopfdruck ein Tränchen fließen lassen kann und am Ende die Treppe aus dem Kerker eine Treppe in eine andere Welt ist, das „Träume den unmöglichen Traum“ gleichsam verabschiedend wie beschwörend – dann hat mich dieser Film endgültig. Wer nicht gern träumt, muss aber auch keine Albträume von ihm bekommen.

Den beiden DVD-Auflagen von 2005 und 2006 fehlt jegliches Bonusmaterial. Die hier zugrundeliegende Pidax-Variante verpasst eine Gelegenheit, eine Lücke zu schließen, denn als einziger Zusatz finden sich Trailer zu weiteren Filmen des Labels. Zudem ist die Bildqualität zwar nicht schlecht, lässt aber angesichts einer angeblich „Remastered Edition“ Luft nach oben erkennen. Auch wenn man bei den nicht ganz durchgängig künstlich-verwaschenen Farben Methode vermuten kann und dies somit nicht zu kritisieren ist, könnte die Schärfe besser sein und ist das Bild von engen waagrechten Streifen durchzogen. Je nach Bildinhalt fällt dies entweder kaum auf oder hat einen leicht störenden Treppeneffekt, beispielsweise, wenn ein dünner Zweig diagonal im Hintergrund zu sehen ist. Das etwas Unaufmerksame der Edition zeigt sich auch daran, dass der Regisseur nicht Miller (Frontcover), sondern Hiller (Backcover) heißt. So bleibt es bei einem mindestens ordentlichen, je nach Geschmack sogar ausgesprochen berührenden Film, der endlich wieder verfügbar ist.

Veröffentlichung: 18. Februar 2022, 27. November 2006 und 20. September 2005 als DVD

Länge: 124 Min.
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen 2022: Deutsch, Englisch
Sprachfassungen 2006: Deutsch, Italienisch, Polnisch, Englisch, Spanisch
Untertitel 2022: Deutsch
Untertitel 2006: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch, Ungarisch
Originaltitel: Man of La Mancha
IT/USA 1972
Regie: Arthur Hiller
Drehbuch: Dale Wasserman, nach seinem Bühnenstück, basierend auf einem Roman von Miguel de Cervantes
Musik: Mitch Leigh
Liedtexte: Joe Darion
Besetzung: Peter O’Toole, Sophia Loren, James Coco, Harry Andrews, John Castle, Ian Richardson
Zusatzmaterial 2022: Trailershow, Wendecover
Zusatzmaterial 2006/2005: keines
Label 2022: Pidax Film
Vertrieb 2022: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2006: Twentieth Century Fox Home Entertainment
Label 2005: MGM
Vertrieb 2005: Sony Pictures Home Entertainment

Copyright 2022 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2022 Pidax Film,
„Music Film“-Packshot: © 2006 Twentieth Century Fox Home Entertainment,
MGM-Packshot: © 2005 MGM

Die letzte Nacht der Titanic – Bestechend inszeniert (Filmrezension)

A Night to Remember

Einmal mehr ein Beitrag von Volker von unserem Partner-Blog „Die Nacht der lebenden Texte

Katastrophendrama // Spoilerwarnung – sie geht unter! Nun, da dieser kleine Kalauer euch, liebe Leserinnen und Leser, an diesen Text gebunden hat, kann es ernsthaft weitergehen: Der Untergang der RMS „Titanic“ am 15. April 1912 wurde wiederholt für Kino und Fernsehen verfilmt. Die ersten beiden Umsetzungen entstanden noch im Jahr der Katastrophe. Bei „In Nacht und Eis“ von Mime Misu handelt es sich um eine nicht ganz dreiviertelstündige deutsche Produktion. Sie kann völlig legal im Internet-Archiv geschaut und heruntergeladen werden und findet sich auch bei YouTube. Bemerkenswert an dem zehnminütigen „Saved from the Titanic“ ist die Tatsache, dass sie nach Berichten der Überlebenden Dorothy Gibson gedreht wurde, die sich sogar selbst spielt. Dieser Film gilt als verschollen (im Internet-Archiv und bei YouTube findet sich zwar ein knapp zehnminütiger Film dieses Titels, er ist es aber nicht). Die spektakulärste und bekannteste Version ist natürlich James Camerons dreieinviertelstündiger, vielfach prämierter Blockbuster „Titanic“ mit Kate Winslet und Leonardo DiCaprio, der ab Herbst 1997 weltweit in die Kinos kam. Jahrelang nach internationalen Einspielergebnissen der erfolgreichste Film, wurde das Werk in der Hinsicht bis heute lediglich von „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ (2009) und „Avengers – Endgame“ (2019) übertroffen.

Die „Titanic“ wird getauft

„A Night to Remember“, so der Originaltitel von „Die letzte Nacht der Titanic“, basiert auf dem gleichnamigen Tatsachenbericht von Walter Lord. Die britische Produktion feierte ihre Premiere am 1. Juli 1958 in London und gelangte ab März 1959 auch in die deutschen Lichtspielhäuser. Der Film beginnt mit der Taufe und dem Stapellauf des Passagierschiffs am 31. Mai 1911. Offenbar eine kleine Beugung der Historie um der Szene willen: Tatsächlich verzichtete die Reederei White Star Line traditionell darauf, ihre Schiffe zu taufen und am Rumpf eine Champagnerflasche zu zerschlagen. Im Übrigen existieren keine Bewegtbildaufnahmen davon, wie die „Titanic“ beim Stapellauf ins Wasser gleitet, für den Film verwendete man den Trivia der IMDb zufolge Aufnahmen des 1938 erfolgten Stapellaufs der RMS „Queen Elizabeth“, seinerzeit das größte Passagierschiff der Welt.

Abfahrt aus Southampton

Zurück zur Spielhandlung von „Die letzte Nacht der Titanic“: Nachdem der Ozeanriese am 10. April vom an der englischen Ostküste gelegenen Southampton ausgelaufen ist, begibt sie sich mit kurzen Zwischenstopps vor dem französischen Cherbourg und dem südirischen Queenstown auf die Passage über den Atlantik. Am 14. April erreichen das Schiff erste Eiswarnungen, aber egal: Das Schiff gilt als unsinkbar. Kurz vor Mitternacht ist es soweit – der Ausguck meldet dem diensthabenden Offizier übers Telefon: Eisberg ganz nah vor uns, Sir! Der Wachhabende lässt das Schiff hart Steuerbord abdrehen und ordert volle Kraft zurück, aber zu spät. Die „Titanic“ wird auf einer Länge von 91 Metern unter der Wasserlinie seitlich aufgerissen.

Kapitän Smith (l.) und Konstrukteur Andrews erkennen die bittere Wahrheit

Kapitän Edward John Smith (Laurence Naismith) schickt den Schiffskonstrukteur Thomas Andrews (Michael Goodliffe) unter Deck, um den Schaden zu inspizieren. Dessen Fazit, die „Titanic“ werde sinken, will er anfangs nicht glauben, lässt sich aber schnell eines Besseren belehren. Andrews errechnet eine Frist von anderthalb Stunden bis zum Sinken. Und während die Passagiere nach der kurzen Erschütterung vorerst sorglos bleiben, beginnt der Kapitän, die Evakuierung des Schiffs zu organisieren, instruiert den Ersten Offizier William M. Murdoch (Richard Leech), den Zweiten Offizier Charles Herbert Lightoller (Kenneth More) und seine übrigen direkten Untergebenen entsprechend. Smith weiß: Es sind zu wenige Rettungsboote an Bord.

Inspiration für James Cameron

Die Bilder von James Camerons schier übermächtiger Version sind mir sehr vertraut. Aber diese vom späteren Horrorspezialisten Roy Ward Baker („Gruft der Vampire“, „Dracula – Nächte des Entsetzens“) in Schwarz-Weiß gedrehte Version der Katastrophe verfehlt ihre Wirkung ebenfalls nicht. Auch wenn in vielen Einstellungen deutlich erkennbar ist, dass mit Miniaturmodellen gearbeitet wurde – so war eben die damalige Tricktechnik. Wer in den Film versinkt (pardon the pun), kann dennoch die Illusion auf sich wirken lassen. Erst recht in den letzten Momenten des sinkenden Schiffs, wenn die Bilder zwischen der Großaufnahme des nahezu senkrecht stehenden Modells und Bildern der auf den Kulissen befindlichen Menschen wechseln. Hier sieht man auch am deutlichsten, dass sich James Cameron „Die letzte Nacht der Titanic“ im Vorfeld seiner eigenen Umsetzung der Tragödie sehr genau angeschaut haben muss (dem Vernehmen nach löste der Film bei ihm den Wunsch aus, sich des Stoffs selbst anzunehmen).

Der Funker der „Carpathia“ empfängt den Notruf

Die 1958er-Version ist ab dem Auslaufen sogleich viel stärker auf die Ereignisse um die Kollision mit dem Eisberg, die Rettungsmaßnahmen und das Sinken fokussiert, als das beim 1997er-Film der Fall ist (wer die Liebesgeschichte zwischen Kate Winslets und Leonardo DiCaprios Figuren bei Cameron in Ehren hält, hat dazu natürlich jedes Recht). Zwischendurch wechselt das Geschehen auf zwei andere Schiffe: Die RMS „Carpathia“ fängt den Notruf der „Titanic“ auf und eilt heran, trifft aber erst nach dem Untergang an der Unglücksstelle ein und nimmt mehr als 700 Überlebende auf. Die in großer Nähe aufgrund der Eisbergwarnungen zum Halt gekommene „Californian“ hingegen misinterpretiert Leuchtsignale vom havarierten Schiff und hat obendrein den Funkraum gerade nicht besetzt, sodass die Notrufe nicht empfangen werden.

Der Abschiedsblick eines Vaters

Sobald es um Leben und Tod geht, wird es emotional. Überaus bewegend gestaltet sich beispielsweise die kurze Szene, wenn der Passagier Robbie Lucas (John Merivale) eines seiner Kinder Offizier Lightoller übergibt, damit der es zur Mutter (Honor Blackman) ins Rettungsboot hebe, und der Blick des gleichwohl ruhig bleibenden Vaters uns verdeutlicht: Er weiß, wie es um das Schiff steht, und ahnt wohl, dass er seinen Lieben nicht folgen wird. Dem gegenüber steht das Verhalten von J. Bruce Ismay (Frank Lawton), Chef der White Star Line, der sich unvermittelt in ein Rettungsboot setzt, das gerade abgefiert wird (der echte Ismay wurde nach seiner Rettung auf beiden Seiten des Atlantiks Zielscheibe eines frühen Shitstorms). So erleben wir Heldengeschichten und Momente der Feigheit – ein Wechselbad der Gefühle. Es spricht für die Präzision der Inszenierung, dass dies Wirkung entfaltet, obwohl wir die Figuren gar nicht besonders gut kennenlernen.

Die Rettungsboote werden abgefiert

Keinerlei Rolle spielt im Film das Rennen ums Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung eines Passagierschiffs. Dass Kapitän Smith und Eigner Ismay die Besatzung auf der Brücke zu Hochgeschwindigkeit anhielten, kann ohnehin ins Reich der Legende verwiesen werden.

Klassiker!

Walter Lords oben bereits erwähnte Vorlage gilt als sorgfältig recherchiert. Der Autor interviewte 64 Überlebende des Untergangs der „Titanic“. Das und die Tatsache, dass beim Dreh Überlebende als Berater hinzugezogen wurden, bewirkten, dass „Die letzte Nacht der Titanic“ bis heute einen guten Ruf als im Rahmen cineastischer Freiheiten akkurate Umsetzung der Ereignisse genießt. Da auch an der Dramaturgie, dem Ensemble und der Bildgestaltung nichts auszusetzen ist, darf dem Werk mit Fug und Recht Klassikerstatus zugestanden werden. Eine Preisflut erntete es zwar nicht, immerhin aber 1959 den Golden Globe als bester englischsprachiger Auslandsfilm (eine seit 1973 nicht mehr existente Kategorie).

Nach einer DVD 2005 und einer Blu-ray 2014 von zwei anderen Labels hat sich nun Pidax des Films angenommen und „Die letzte Nacht der Titanic“ in solider Bildqualität auf Blu-ray und DVD veröffentlicht (zur Sichtung lag mir die DVD vor). Als Boni auf den Scheiben finden sich der Originaltrailer und zwei Bildergalerien. Ein Nachdruck der „Illustrierte Film-Bühne“ Nr. 4745 inklusive der für diese Publikation üblichen vollständigen Inhaltsangabe liegt bei.

Beim Untergang der „Titanic“ starben mehr als 1.500 Menschen.

Veröffentlichung: 12. November 2021 und 15. Juli 2014 als Blu-ray, 5. November 2021 und 17. März 2005 als DVD

Länge: 123 Min. (Blu-ray), 121 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: A Night to Remember
GB 1958
Regie: Roy Ward Baker
Drehbuch: Eric Ambler, nach einem Roman von Walter Lord
Besetzung: Kenneth More, Ronald Allen, Robert Ayres, Honor Blackman, Anthony Bushell, John Cairney, Jill Dixon, Jane Downs, James Dyrenforth, Michael Goodliffe, Kenneth Griffith, Harriette Johns, Frank Lawton, Richard Leech, David McCallum, Alec McCowen, Tucker McGuire, John Merivale, Laurence Naismith, Russell Napier, Harold Goldblatt, Desmond Llewelyn
Zusatzmaterial 2021: Originaltrailer, Bildergalerie Pressefotos, Bildergalerie Werbematerial, Trailershow, Wendecover
Zusatzmaterial 2014: Trailershow
Zusatzmaterial 2005: Chronologie des Untergangs, technische Daten der „Titanic“, Geschichten & Legenden, diverse Kinotrailer, Original-Artworks, Biografien, Trailershow
Label 2021: Pidax Film
Vertrieb 2021: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2014: Ascot Elite Home Entertainment
Label/Vertrieb 2005: Indigo

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Blu-ray-Packshot: © 2021 Pidax Film, mittlerer Blu-ray-Packshot: © 2014 Ascot Elite Home Entertainment, DVD-Packshot: © 2005 Indigo

Hanau – Darf Uwe Boll das?

Hanau

Von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Dokudrama // Beim Terroranschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschießt ein 43-jähriger Einwohner der hessischen Stadt innerhalb einer Viertelstunde neun Menschen, allesamt mit Migrationshintergrund. Anschließend fährt er in seine Wohnung im Ortsteil Kesselstadt und erschießt dort erst seine Mutter und anschließend sich selbst.

Offener Brief der Stadt Hanau an Uwe Boll

Als bereits ein Jahr später bekannt wird, dass der umstrittene deutsche Independent-Regisseur Uwe Boll die Ereignisse verfilmen will, regt sich umgehend Widerstand. So veröffentlicht die mainaufwärts in der Nähe von Frankfurt gelegene Stadt Hanau im März 2021 einen offenen Brief, gezeichnet unter anderem vom Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Stadtverordneten und den Familien der Opfer. Darin verleihen diese ihrem Entsetzen über Bolls Pläne Ausdruck und fordern ihn inständig auf, sein Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Wer den streitbaren Filmemacher kennt, ahnt: Das wird ihn nicht davon abhalten, sondern womöglich erst recht motivieren. Und so kommt es dann auch, Boll dreht „Hanau“ im März 2021 in Mainz. Einen Kinostart bekommt das Werk nicht spendiert, das verbindet es mit vielen Regiearbeiten Uwe Bolls. Es bleibt spekulativ, ob sich kein Filmverleih und keine Kinokette so kurz nach dem Terrorakt daran die Finger verbrennen will. Ebenso weiß ich nicht, ob Boll über seine BOLU Filmproduktion und -verleih GmbH versucht hat, für die Heimkinovermarktung von „Hanau“ einen größeren Publisher zu finden als das kleine Label Tiberius Film, das es nun geworden ist.

In Vorbereitung

Zu Beginn von „Hanau“ informiert eine Texteinblendung uns darüber, dass es sich bei den Worten des Täters meist um seine eigenen handelt. Er habe ein Manifest geschrieben und diverse Beiträge in den Sozialen Medien veröffentlicht. Er sei der erste Qanon-Massenmörder. Eine weitere Einblendung betont, der Film zeige Uwe Bolls Interpretation des Massakers – durchaus ungewöhnlich, seinem Film eine solche Banalität voranzustellen.

Kruder Gruß an den „Hohen Germanischen Rat“

Die ersten Bilder zeigen deutsche und englische Fernsehnachrichtenmeldungen über die Bluttat. Im Anschluss hält der Täter Tobias R. (Steffen Mennekes) eine Rede an den „Hohen Germanischen Rat“ in die Kamera, mit der er seine krude Haltung zum Besten gibt (womöglich aus besagtem Manifest entnommen). Er endet mit einem zackigen Viva Germania! Wir sehen ihn daheim, beim Schusstraining, im Auto, ständig vor sich hin monologisierend. Am Tag der Tat sieht er sich mittags in der Innenstadt um und kehrt dann nach Hause zurück. Um 20:48 Uhr besteigt er sein Auto und fährt erneut in die Innenstadt. Um 21:50 Uhr erreicht er die Shishabar „Midnight“, betritt sie und erschießt diverse Anwesende.

Er schreitet …

Mit dem Selbstmord des Massenmörders endet die Spielhandlung von „Hanau“ bereits nach einer Stunde. Es folgen weitere Nachrichtenbilder, die einige weltweite rechtsgerichtete Umtriebe illustrieren, unter anderem mit Donald Trump und Björn Höcke, bevor sich Uwe Boll für den Rest der Laufzeit selbst inszeniert, wie er in Hanau die Orte des Geschehens aufsucht und kommentiert. Seine Regiearbeit endet mit einer erschreckend langen Liste „Erfasste Opfer rechtsradikaler Gewalt in Deutschland seit 1990“ (gemeint sind Todesopfer).

Konsequenter Fokus auf den Täter

„Hanau“ bleibt in der Spielhandlung konsequent beim Täter und zeigt die Opfer lediglich während der Morde, zeigt sie kurz beim Sterben. Boll ging es erkennbar darum, seinem Publikum die krude Weltsicht des Rechtsterroristen zu präsentieren und zu vermitteln, wie eine Mischung aus Rassismus, Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn zu einer derart entsetzlichen Tat führen kann. Dabei bleibt der Regisseur jederzeit im Hier und Jetzt, die sicher Jahre währende Entwicklung dieses Weltbilds im Kopf des Mörders klammert er aus; sie darzustellen, hätte wohl auch den zeitlichen Rahmen gesprengt und wäre zudem arg spekulativ ausgefallen, erst recht so kurz nach den Ereignissen.

… zur Tat

Die Szenen mit dem monologisierenden Täter wirken auf mich befremdlich. Liegt es am mangelnden Vermögen des Schauspielers Steffen Mennekes, den Boll gern bucht, oder gar an unsauberer Schauspielerführung durch den Regisseur? Was die Figur da allerdings an rassistischem und verschwörungstheoretischem Unfug von sich gibt, IST befremdlich. Die Art und Weise, wie Mennekes das vorträgt, passt somit vorzüglich und ist stimmig. Ob der Täter tatsächlich derartige Monologe – wahlweise Selbstgespräche – geführt hat, ist unerheblich, als Element zur Vermittlung dieser Gedankenwelt ist das ein legitimes Stilmittel.

Make-up-Effekte von Olaf Ittenbach

Boll inszeniert das Geschehen betont kühl, um einen dokumentarischen Charakter zu erhalten. Bei den Morden geht er darüber allerdings hinaus, diese fallen drastisch und atemstockend aus. Für die Make-up-Effekte hat sich der Regisseur, der wie üblich auch als Produzent agierte, die Dienste des deutschen Independent-Splatterfilmers Olaf Ittenbach („Premutos – Der gefallene Engel“, „Legion of the Dead“) gesichert, der diese Aufgabe bereits bei den Boll-Arbeiten „Blood Rayne“ (2005), „Seed“ (2006) und „Tunnel Rats – Abstieg in die Hölle“ (2008) übernommen hatte. Die drastische Darstellung von Gewalt und ihren Folgen hat für mich in Filmen ihre Berechtigung, in diesem Fall konterkariert sie meines Erachtens aber die aufklärerische Intention, da sie „Hanau“ einen exploitativen Beigeschmack gibt. Es ist eben doch einen Tick zu viel, wenn ein Toter mit Kopfschusswunde gezeigt wird, neben dessen Kopf Schädelknochen und Hirnmasse auf dem Boden verteilt sind. Hier konnte – oder wollte – Boll offenbar nicht aus seiner Haut. Andererseits sind das kurze Momente, andere mögen das vielleicht sogar als zurückhaltend inszeniert interpretieren.

Keine Frage: Sein Anliegen, vor den Gefahren zu warnen, die in manchen Bevölkerungsgruppen mit rechter Schlagseite in Deutschland (und weltweit) seit Jahren heranwachsen, ist ehrenwert und berechtigt. Ich halte Uwe Boll in der Hinsicht auch für glaubwürdig. „Hanau“ ist zudem weit davon entfernt, als völlig missratenes Machwerk diskreditiert zu werden, wie es diversen von Bolls Regiearbeiten über die Jahre ergangen ist. Vielleicht wäre er besser beraten gewesen, sich in puncto Gewaltdarstellung diesmal etwas zu zügeln. Er geht aber nun mal an die Themen, die ihm wichtig sind, voller Leidenschaft heran, was gelegentlich dazu führt, dass ihm die Pferde durchgehen. Das sei ihm nachgesehen, ist ja auch keine Missetat. Insgesamt wirkt „Hanau“ nicht ganz zu Ende gedacht und mit seiner Agenda in Einklang gebracht, das Dokudrama bleibt mit seiner konsequenten Tätersicht und der Präsentation der Gedankenwelt des Massenmörders aber ein sehr interessanter Kommentar zum Terroranschlag.

Dreharbeiten ein Jahr nach dem Terroranschlag

Besonderes Interesse und kritische Betrachtung weckt „Hanau“ zweifellos auch aufgrund der zeitlichen Nähe zur Tat. Dreharbeiten nur ein Jahr später, deren Vorbereitung somit noch näher dran – da rauschte der Blätterwald und sowohl Filmfans und -journalisten als auch andere hatten sofort eine Meinung. Viele dieser Meinungen, insbesondere die abfälligen, resultierten aus eigenen Glaubenssätzen zum Thema Pietät, was dazu führte, dass Boll von vielen geschmäht wurde. Das kann er doch nicht machen! Wie kann er nur? Dabei ist die Antwort auf die Frage Darf der das? erst einmal simpel: Natürlich darf der das!

Andernorts …

In oben erwähntem offenen Brief drohen die Unterzeichnenden mit Strafanzeige und Unterlassungsklage für den Fall, dass Boll Persönlichkeitsrechte der Angehörigen, deren Pietätsempfinden und die fortwirkende Menschenwürde der Verstorbenen missachte. Dazu ist festzustellen, dass der Regisseur die Persönlichkeitsrechte der Angehörigen insofern achtet, als Angehörige nicht im Bild auftauchen und auch nicht genannt werden. Von den Mordszenen mögen einige von ihnen ihr Pietätsempfinden verletzt sehen, allerdings vermag ich hier keine strafrechtliche Relevanz zu erkennen. Auch die Würde der Getöteten bleibt meines Erachtens gewahrt. Boll charakterisiert keinen von ihnen, sie bleiben die willkürlichen Opfer, zu denen der Terrorist sie auserkoren hat, weil sie sich eben zufällig gerade an den Orten aufhielten, die er für seine Bluttaten ausgewählt hatte.

Polizeilicher Notruf nicht erreichbar

In dem Brief wird Boll zudem aufgefordert, seine vorherige Behauptung zu unterlassen, das Ordnungsamt Hanau habe jahrelang versagt. Diese Behauptung wiederholt er im Film in der Tat nicht, ob als Reaktion auf den offenen Brief oder aus anderen Motiven. Boll kritisiert allerdings sehr scharf die Hanauer Polizei für ihre mangelnde telefonische Erreichbarkeit an jenem Abend, ein Vorwurf, den nicht nur er erhebt.

… mordet er weiter

Ist es unethisch, den Anschlag so früh nach der Tat zu verfilmen? Auffällig: Darauf geht der offene Brief der Stadt Hanau überhaupt nicht ein. Der zentrale Vorwurf daraus lautet: Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, welche Geisteshaltung notwendig ist, um den gewaltsamen Tod von neun Mitmenschen in einer Art und Weise filmisch umzusetzen, die nach Ihren eigenen Worten zu hart für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ist. Damit ignorieren die Unterzeichnenden die Existenz einer Vielzahl filmischer Umsetzungen brutaler Gewaltakte aus unserer Realität, bei denen diese Kritik nicht geübt wird. Ob Krimis, Thriller, Kriegsfilme oder schlicht Dramen – permanent entstehen Filme nach tragischen Begebenheiten der Zeitgeschichte. Meist vergeht nur eben mehr Zeit zwischen den Ereignissen und ihrer filmischen Adaption.

Der Regisseur mit dem „unterirdischen Ruf“

Sein Ruf als schlechter Regisseur spielt offenbar auch eine große Rolle bei der Ablehnung, die Uwe Bolls geplante Umsetzung im Vorfeld auslöste. So kritisierte ein Autor der Süddeutschen Zeitung schon im März 2021 das Vorhaben in einem Text, der vor Voreingenommenheit gegenüber Boll strotzt. Da ist davon die Rede, er werde immer wieder als schlechtester Regisseur der Welt geschmäht, und sein Ruf sei so unterirdisch, dass er sich 2018 aus dem Filmgeschäft zurückzog. Gefolgt von einer Unterstellung unter der Gürtellinie: Die Wut, die sein Hanau-Projekt jetzt naturgemäß auslösen muss, will er offenbar als Aufmerksamkeitsmotor für ein Comeback nutzen. Hätte sich der Autor etwas intensiver mit Uwe Boll auseinandergesetzt, wüsste er, dass der Mann Überzeugungstäter ist. Er wüsste auch, dass Bolls Filmografie nicht zwangsläufig den geschmack- und gefühllosen Exploitation-Film befürchten lässt, den er offenbar befürchtet. Der Autor erwähnt sogar, dass Boll einen Film über den Konflikt in Darfur gemacht hat, hat diesen aber offenbar nicht gesehen, denn nach Sichtung von „Darfur – Der vergessene Krieg“ (2009) wüsste er, dass Boll mehr drauf hat, wenn er denn will.

Geradezu entlarvend wird die Anti-Boll-Agenda des Verfassers, wenn er Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) in einen Kontext zu Uwe Bolls „Auschwitz“ (2011) setzt und dabei die Meisterschaft des einen mit der vermeintlichen Talentlosigkeit des anderen vergleicht und seine Haltung als allgemeingültige Wahrheit verkauft: Wahr ist, dass es Werke dieser Art gibt, die am Ende ihr künstlerisches Versprechen überzeugend einlösen, selbst wenn sie im Vorfeld oder bei der Premiere umstritten waren. Wahr ist ebenso, dass schamlose Ausbeuter schon immer das Grauen der Realität für den Versuch benutzt haben, über Schock- und Skandaleffekte schnelle Gewinne einzufahren. Der Meisterregisseur ist somit allein schon aufgrund seines großen Talents glaubwürdig, wer seine Filme nicht ganz so virtuos inszeniert, muss wohl ein schamloser Ausbeuter sein. Eine schäbige Argumentation, die obendrein völlig außer Acht lässt, dass ein Vergleich zwischen dem großen Hollywood-Regisseur Steven Spielberg und dem stets mit Minimalbudgets hantierenden Independent-Filmer Uwe Boll die gewaltigen Unterschiede bei den Production Values berücksichtigen müsste. Auch „Hanau“ sieht man selbstverständlich an, dass Boll für die Produktion nur wenig Geld zur Verfügung stand.

Psychogramm des Täters

„Hanau“ ist ganz sicher kein geschmack- und gefühlloser Exploitation-Film geworden. Uwe Boll klammert die Persönlichkeiten der Opfer komplett aus und konzentriert sich voll auf den Täter. Das Psychogramm mag oberflächlich sein, und der Fokus auf den Mörder inklusive Vernachlässigung der Profile der Opfer kann einem missfallen, es passt aber zu Bolls Agenda, vor solchen Terroristen zu warnen. Wer sich mit der Haltung des Filmemachers etwas auseinandersetzen möchte, dem sei ein Interview bei „Blickpunkt Film“ empfohlen.

Ausgeführt

Bleibt die Frage, die nach derzeitigem Ermittungsstand wohl bejaht wird: War Tobias R. ein verwirrter Einzeltäter?

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Uwe Boll sind dort in der Rubrik Regisseure aufgelistet.

Veröffentlichung: 4. März 2022 als Blu-ray und DVD, 17. Februar 2022 als Video on Demand

Länge: 78 Min. (Blu-ray), 75 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Hanau
D 2022
Regie: Uwe Boll
Drehbuch: Uwe Boll, Steffen Mennekes
Besetzung: Steffen Mennekes, Radost Bokel, Imad Mardnli, Tito Uysal, Adam Jaskolka, Daniel Faust, Robert Hofmann, Christopher Köberlein, Annika Strauss, Sven Zinserling, Vito Anthony Adragna, Robin Atalay, Alper Buyukyigit, Erlogan Ercan, David Erstling, Hiltrud Hauschke, Jannis Hollmann, Teggour Ismail
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Uwe Boll, Making-of, Trailer
Label/Vertrieb: Tiberius Film

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & Packshots: © 2022 Tiberius Film

Shootings Dogs – Ruanda und die Tatenlosigkeit der Welt (Filmrezension)

Shooting Dogs

Bedrückender Film über ein bedrückendes Weltereignis vor mehr als einem Vierteljahrhundert, dem sich Volker Schönenberger von unserem Partner-Blog „Die Nacht der lebenden Texte“ hier widmet.

Kriegsdrama // Haben die auf sie geschossen? So fragt Father Christopher (John Hurt) den belgischen Blauhelm-Offizier Capitaine Charles Delon (Dominique Horwitz). Der hat ihm angekündigt, die streunenden Hunde erschießen lassen zu wollen, die sich vor der weiterführenden Schule École Technique Officielle über die Leichen hermachen. Der Geistliche kommentiert mit seiner rhetorischen Frage auf sarkastische Weise die Untätigkeit der UN-Friedenstruppen im Angesicht des Völkermords in Ruanda, deren Mandat den Schusswaffengebrauch nur zulasse, wenn zuvor auf sie geschossen worden ist. Der Dialog in „Shooting Dogs“ gab dem Film seinen Namen.

Schule wird Schauplatz eines Massenmords

Den Hergang des Völkermords in dem ostafrikanischen Binnenstaat habe ich bereits in meiner Rezension von Raoul Pecks Kriegsdrama „Als das Morden begann“ (2005) skizziert. Die Handlung des an Originalschauplätzen gedrehten „Shooting Dogs“ fokussiert sich auf oben genannte Schule in der ruandischen Hauptstadt Kigali, die am 11. April 1994 zum Schauplatz eines Massenmords an mehr als 2.000 Menschen wurde. Die Handlung setzt sechs Tage zuvor ein: Der für ein Jahr dort tätige junge Lehrer Joe Connor (Hugh Connor) erfreut sich bei den Schülerinnen und Schülern großer Beliebtheit. Er selbst hat ein Auge auf Marie (Clare-Hope Ashitey) geworfen, eine talentierte Leichtathletin. Joes Unbeschwertheit bekommt einen ersten Knacks, als er von der BBC-Journalistin Rachel (Nicola Walker) erfährt, eine hauptsächlich von Tutsi besuchte Friedenskundgebung sei von Hutu-Schlägern mit Macheten überfallen worden. Kurz darauf wird Marie von ein paar halbwüchsigen Hutu mit Steinen beworfen und als „Kakerlake“ beschimpft – eine typische Beleidigung der Tutsi durch die Hutu, wie die Schülerin ihrem Lehrer berichtet.

Der Mob lauert schon

Am späten Abend des 6. April stirbt Staatspräsident Juvénal Habyarimana, als sein Flugzeug abgeschossen wird. Seit vielen Wochen aufgestachelte Hutu-Gewalttäter – manche in Uniform, manche in Zivil – beginnen umgehend mit Massakern an den Tutsi. Die zum Schutz der Schule abgestellten belgischen Blauhelm-Soldaten unter Capitaine Delon riegeln das Gelände ab. Gegen den Willen des Offiziers gewährt Father Christopher vielen flüchtenden Tutsi Unterschlupf. Vor den Toren sammelt sich bald ein blutrünstiger Mob.

Uns kann nichts geschehen, solange wir zusammenhalten. Wir sind zu viele hier. Anfangs glaubt Joe Connor noch an das, was er Marie sagt. Doch die fragile Sicherheit der Menschen in der Schule hängt einzig von der Anwesenheit der UN-Soldaten ab. Und selbst die Belgier sind gefährdet, wie die Massakrierung von zehn belgischen Blauhelm-Soldaten beweist, die zur Sicherheit der ebenfalls ermordeten Premierministerin Agathe Uwilingiyimana abkommandiert waren. An einer Straßensperre trifft der junge Lehrer François (David Gyasi) wieder, einen Hutu, der an der Schule als Aushilfe beschäftigt war und den Joe als freundlichen Menschen schätzte. Nun hält er eine blutverschmierte Machete in der Hand.

Vom Regisseur von „Rob Roy“

Der schottische Regisseur Michael Caton-Jones („Memphis Belle“, „Rob Roy“) lieferte mit „Shooting Dogs“ seinen vielleicht besten, ganz sicher aber wichtigsten Film ab. Die recht unbeschwerten ersten Minuten von „Shooting Dogs“ sind allzu schnell vorbei, danach öffnet sich nach und nach der ganze Abgrund des Völkermords, anfangs noch mit Informationsfetzen und Gehörtem, bald auch im schockierenden Bild. Nicht ausufernd, aber in aller Schonungslosigkeit zeigt Caton-Jones das grausame Gemetzel, das Schwingen der Macheten und Keulen. Hoffnung für die Tutsi gibt es keine – als französische Soldaten eintreffen, dient das nur dem Zweck, die Weißen zu evakuieren. Joe bleibt mit Father Christopher bei den Tutsi, doch als auch die belgischen Soldaten abgezogen werden, muss er eine Entscheidung treffen. Und die Meuchelmörder vor den Toren der Schule schwingen in freudiger Erwartung des Abzugs der Soldaten schon ihre Waffen.

Kein Schießbefehl für die UN-Beobachter

An den Straßen liegen überall blutige Leichen, gnadenlos erheben junge Männer die Macheten gegen Frauen, Babys, Alte. Phasenweise ist das schwer erträglich. Caton-Jones legt den Finger tief in die Tatenlosigkeit der internationalen Staatengemeinschaft, die dem drei Monate andauenden Massenmord in Ruanda aufgrund der Uneinigkeit des UN-Sicherheitsrats zuschaute, ohne einzugreifen. Der Blick auf die belgischen Blauhelme an der Schule dokumentiert dies vorzüglich. Capitaine Delon, meines Wissens eine fiktive Figur, steht stellvertretend für die UN-Friedenstruppen, deren Mandat ein Eingreifen verbot und die deshalb zur Untätigkeit verdammt waren. Delon ringt mit sich, zeigt Gewissensbisse, aber zu keinem Zeitpunkt kommt es für ihn in Frage, die Waffe gegen die Mörder zu erheben oder seinen Untergebenen den Schießbefehl zu geben. Ich bin Soldat – und Soldaten gehorchen ihren Befehlen. Das kennen wir nur zu gut. Der in Deutschland lebende französische Schauspieler Dominique Horwitz bewältigt diese schwierige Gratwanderung überzeugend.

Das Lexikon des internationalen Films bemängelte in seiner ansonsten sehr positiv ausfallenden Kurzrezension, „Shooting Dogs“ konzentriere sich auf die psychologische Ausarbeitung der Charaktere der weißen Protagonisten, wodurch der Völkermord zur Kulisse westlicher Gewissenskonflikte werde. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht, wobei ich die Schärfe der Formulierung für unfair halte. Mit der internationalen Besetzung und vor allem John Hurt erhielt der Film immerhin Aufmerksamkeit, die ihm sonst verwehrt worden wäre.

Kostenlos im Netz

Seine Weltpremiere feierte „Shooting Dogs“ am 11. September 2005 beim renommierten Toronto International Film Festival, anderthalb Monate später wurde es bei den Internationalen Hofer Filmtagen in Bayern gezeigt. In den USA wurde das Kriegsdrama auch unter dem Titel „Beyond the Gates“ vermarktet und im deutschen Fernsehen als „Mord unter Zeugen“ ausgestrahlt. In Deutschland ist Michael Caton-Jones’ Regiearbeit nie auf DVD oder Blu-ray erschienen; eine deutsch synchronisierte Fassung kann aber kostenlos und völlig legal auf der Website und dem YouTube-Kanal des Internet-Streaming-Anbieters Netzkino angeschaut werden – mit einem kostenpflichtigen Abo auch werbefrei.

Den Opfern des Völkermords

Als Einstieg zur Lektüre über den Völkermord in Ruanda eignet sich die Webseite „Ghosts of Rwanda“. „Shooting Dogs“ ist allen Opfern des Völkermords gewidmet – die Zahl der Toten wird auf etwa 800.000 geschätzt. Vor dem Abspann werden einige Überlebende gezeigt, die bei den Dreharbeiten mitgewirkt haben, so beispielsweise Euphrasie Mukarubibi, die ihren Ehemann verlor, vergewaltigt und dabei mit HIV infiziert wurde und als Statistin beteiligt war. Jean-Pierre Sagahutu war am Set als Leiter des Transport beschäftigt – seine Eltern, drei Schwestern und vier Brüder wurden ermordet. Mussa Mangara war für die Garderobe zuständig; 30 Mitglieder der Familie seiner Mutter befinden sich unter den Opfern des Genozids. Dieselbe Tätigkeit beim Dreh übte Nathalie Rutabuzwa aus, die der Völkermord all ihre Schwestern und Brüder kostete.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Dominique Horwitz und John Hurt sind dort in der Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Veröffentlichung (GB): 31. Juli 2006 und 25. Juni 2007 als DVD

Länge: 112 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: Englisch
Originaltitel: Shooting Dogs
Deutscher TV-Titel: Mord unter Zeugen
Alternativtitel: Beyond the Gates
GB/D 2005
Regie: Michael Caton-Jones
Drehbuch: David Wolstencroft
Besetzung: John Hurt, Hugh Dancy, Dominique Horwitz, Louis Mahoney, Nicola Walker, Steve Toussaint, Clare-Hope Ashitey, David Gyasi, Susan Nalwoga, Victor Power, Jack Pierce
Zusatzmaterial: keine Angabe
Label/Vertrieb: Metrodome Distribution

Copyright 2022 by Volker Schönenberger

Packshots: © Metrodome Distribution

Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe – Dabei will er doch nach Australien! (Filmrezension)

Support Your Local Sheriff!

Von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Westernkomödie // Immer wieder gern gesehen: Jack Elam (1920–2003). Sein schiefer Blick resultierte daraus, dass er als Zwölfjähriger einen Bleistift ins Auge gestochen bekam. Das verstärkte sein markantes Aussehen, was ihn als Sonderling und Schurke prädestinierte – ein Rollenbild, das er in etlichen Western unter großen Regisseuren gern annahm. So war er in Robert Aldrichs „Vera Cruz“ (1954) an der Seite von Gary Cooper, Burt Lancaster, Ernest Borgnine und Charles Bronson zu sehen. Mit John Wayne spielte er in „Die Comancheros“ (1961) unter der Regie von Michael Curtiz, mit James Stewart unter anderem in „Rancho River“ (1966) und mit Kirk Douglas, Robert Mitchum und Richard Widmark in „Der Weg nach Westen“ (1967), beide inszeniert von Andrew V. McLaglen. Ohne Nennung im Abspann blieb Elam in Fred Zinnemanns „12 Uhr mittags“ (1952) – der Part als Besoffener im Knast war wohl zu kurz. Unvergessen bleibt uns der Gute auch nicht zuletzt aufgrund eines anderen Kurzauftritts: Im Prolog von Sergio Leones „Spiel mir das Lied vom Tod“ (1968) wartet er als Revolverschwinger mit zwei Spießgesellen auf einen Zug und vertreibt sich die Zeit damit, eine lästige Fliege zu beobachten und schließlich mit dem Lauf seiner Pistole zu fangen. Unmittelbar nach Eintreffen des Zuges beendet eine Kugel aus dem Revolver von Charles Bronsons „Harmonica“ sein Dasein.

Jack Elam durchbricht die vierte Wand

In „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ (1969) spielt Jack Elam den leicht vertrottelten Jake, der sich im Lauf der Zeit zur treuen Seele und zum Helfer der von James Garner verkörperten Titelfigur Jason McCullough mausert. In der letzten Szene des Films durchbricht Jake mit in die Kamera gerichtetem Blick sogar die vierte Wand, um dem Publikum zu berichten, was aus Sheriff McCullough, Prudy Perkins (Joan Hackett) und ihm selbst geworden ist. Da es sich um eine Westernkomödie handelt, bekommt das Publikum ein schönes Happy End geboten. Den Spoiler verzeihe man mir, man kann es sich von Anfang an denken.

Prudy Perkins geht keiner Schlammschlacht aus dem Weg

Jason McCullough will nach Australien auswandern. Jedenfalls wird er nicht müde, das zu behaupten. Weil ihm dafür das nötige Kleingeld fehlt, will er in Colorado Gold schürfen. Im Örtchen Calendar geht es drunter und drüber, wie das zu Zeiten des Goldrausches nun mal ist. Das Sagen hat die übel beleumdete Familie Danby. Pa Danby (Walter Brennan) kontrolliert die Frachtrouten nach außerhalb. Sohnemann Joe (Bruce Dern) beweist den miesen Ruf der Danbys, indem er im Saloon eiskalt einen Mann niederschießt. Das verlanlasst den just eingetroffenen McCullough zu der Bemerkung, es sei Mord gewesen. Spricht’s und zieht von dannen, den verdutzten Joe Danby ratlos zurücklassend.

Sheriffposten statt Goldsuche

Die Inflation nimmt in Calendar enorme Ausmaße an, was McCulloughs Absichten zuwiderläuft. Daher sagt er zu, den Posten des Sheriffs zu übernehmen, den ihm der Bürgermeister Olly Perkins (Harry Morgan) und die Stadträte Henry Jackson (Henry Jones) und Fred Johnson (Walter Burke) nachdrücklich anbieten. Seine erste Amtshandlung besteht darin, eine handfeste Massenkeilerei auf der schlammigen Hauptstraße von Calendar aufzulösen. Daran beteiligt ist auch des Bürgermeisters aufbrausende Tochter Prudy, der er kurz darauf erneut begegnet: Ihr Vater gewährt dem neuen Sheriff Kost und Logis. Weil Dorftrottel Jake gerade in der Nähe herumsteht, verpflichtet er ihn kurzerhand als Hilfssheriff. Zu Jakes Entsetzen muss dieser seinem neuen Chef sogleich dabei helfen, Joe Danby zu verhaften. Das gelingt ganz ohne Blutvergießen, aber im just neu errichteten Gefängnis von Calendar erlebt Sheriff McCullough eine Überraschung: Die Gitter wurden noch nicht geliefert.

Die Delle im Sheriffstern

„Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ strotzt vor brüllend komischen Einfällen. So dient es als Running Gag, wie es dem Sheriff immer wieder gelingt, den im gitterlosen Knast einsitzenden Joe Danby an der Flucht zu hindern. Eine andere schöne Pointe: Kurz nach seiner Ernennung hatte sich McCullough aus einer Sammlung ramponierter Sheriffsterne einen ausgesucht, der eine Delle von einer Revolverkugel aufweist. Auf seinen Kommentar, der Stern habe seinem Träger wohl das Leben gerettet, bekommt er zu hören: Das hätte er wohl, wären die Kugeln in dem Moment nicht von allen Seiten gekommen. Köstliche Dialoge wie dieser ziehen sich durch „Support Your Local Sheriff“, so der Originaltitel.

Sheriff McCullough bietet Pa Danby die Stirn – und den Finger

Man muss das Westerngenre schon gut kennen und sehr lieben, um es derart liebevoll zu verhohnepiepeln. Beides trifft zweifellos auf Burt Kennedy zu, der in seiner von 1961 bis 2000 währenden Karriere etliche anständige Genrebeiträge inszeniert hat. Er drehte mit namhaften Stars, etwa für „Nebraska“ (1965) mit Henry Fonda und Glenn Ford, „Die Rückkehr der glorreichen Sieben“ (1966) mit Yul Brynner sowie „Die Gewaltigen“ (1967) mit John Wayne und Kirk Douglas. 1971 hatte er für „In einem Sattel mit dem Tod“ (1971) Ernest Borgnine, Christopher Lee, Robert Culp und Raquel Welch vor der Kamera, 1973 für „Dreckiges Gold“ (1973) Rod Taylor und erneut John Wayne.

Walter Brennan parodiert seine eigene Rolle

Kenntnis des Westerngenres belegen auch die Reverenzen, die „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ zwei Genreklassikern erweist. Eine städtische Versammlung erinnert frappierend an eine ebensolche Zusammenkunft im bereits erwähnten Edelwestern „12 Uhr mittags“. Und Walter Brennan spielt Pa Danby als famose Parodie seiner Rolle des Patriarchen „Old Man“ Clanton in John Fords „Faustrecht der Prärie“ (1946) mit Henry Fonda als Wyatt Earp und Victor Mature als Doc Holliday.

Es geht los!

Der Erfolg von „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ an den Kinokassen führte zwei Jahre später zu „Latigo“ (1971), einer Westernkomödie mit ähnlichem Zungenschlag. Das war kein Zufall – in Cast und Crew befanden sich diverse Beteiligte des Vorgängers, beispielsweise Regisseur Burt Kennedy, Hauptdarsteller James Garner und Nebendarsteller Jack Elam. Mir gefällt „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ deutlich besser, was auch damit zusammenhängen mag, dass ich mit diesem Jugenderinnerungen an Fernsehabende im Kreis der Familie verbinde. Großer Unterhaltungswert lässt sich „Latigo“ aber ebenfalls nicht absprechen.

Endlich auf Blu-ray

Da das deutsche Label Black Hill Pictures „Latigo“ bereits 2018 als Blu-ray veröffentlicht hat, hatte ich für „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ mit einer Blu-ray vom selben Publisher gerechnet. Nun ist es Pidax Film geworden – auch gut, da Bild- und Tonqualität in Ordnung sind. Nur die Ausstattung hätte etwas üppiger ausfallen können, nicht einmal Untertitel gibt es. Ein kleiner Wermutstropfen, der sich verschmerzen lässt. Ein Western als Wohlfühlfilm ist gar nicht mal so häufig anzutreffen. Im Falle von „Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe“ ist der Wohlfühlfaktor ausgesprochen hoch. Ein kontrastierendes Double Feature mit einem zynisch-brutalen Italowestern wäre ein interessantes Experiment.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Burt Kennedy sind bei „Die Nacht der lebenden Texte“ in der Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Walter Brennan, Bruce Dern, Jack Elam, James Garner und Harry Morgan unter Schauspieler.

Der Sheriff schnappt sich Prudy

Veröffentlichung: 15. Oktober 2021 als Blu-ray und DVD, 13. Juni 2008 und 30. Oktober 2006 als DVD

Länge: 92 Min. (Blu-ray), 88 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, nur MGM/Fox: Französisch, Spanisch, Italienisch
Untertitel (nur MGM/Fox): Französisch, Niederländisch, Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Finnisch, Rumänisch
Originaltitel: Support Your Local Sheriff!
USA 1969
Regie: Burt Kennedy
Drehbuch: William Bowers
Besetzung: James Garner, Joan Hackett, Walter Brennan, Harry Morgan, Jack Elam, Bruce Dern, Henry Jones, Willis Bouchey, Gene Evans, Walter Burke, Chubby Johnson, Kathleen Freeman
Zusatzmaterial: Bildergalerie
Label 2021: Pidax Film
Vertrieb 2021: Studio Hamburg Enterprises
Label/Vertrieb /2008/2006: MGM / Twentieth Century Fox Home Entertainment

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 Pidax Film

Center Stage – Der Weg zum Ballettruhm? (Filmrezension)

Center Stage

Von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Tanzdrama // An der von Jonathan Reeves (Peter Gallagher) geführten American Ballet Academy von New York City treten zwölf neue Schülerinnen und Schüler ihr Training an. Sie alle hoffen, nach einem Jahr in Reeves’ American Ballet Company aufgenommen zu werden. Da ist beispielsweise die Starschülerin Maureen Cummings (Susan May Pratt), welche die Übernahme fast schon sicher zu haben scheint, aber an Bulimie leidet und letztlich nur den Traum ihrer Mutter Nancy (Debra Monk) lebt. Als sie den angehenden Medizinstudenten Jim (Eion Bailey) kennenlernt, merkt sie, dass es mehr im Leben gibt als Ballett.

Jonathan Reeves will nur die Besten der Besten

Jody Sawyer (Amanda Schull) ist mit Leidenschaft dabei, hat aber angeblich ein paar körperliche Defizite, die ihren Erfolg blockieren. Ganz anders Eva Rodriguez (Zoe Saldana), die mit unkonventionellem Verhalten aneckt, aber über massig Talent verfügt, das sie als Balletttänzerin immer besser werden lässt. Charlie (Sascha Radetsky) ist ebenso begabt und hat beim Training keine Probleme, verguckt sich nach und nach in Jody, die allerdings Cooper Nielson (Ethan Stiefel) anhimmelt. Der Topstar am New Yorker Balletthimmel ist gerade von einem Engagement in London zurückgekehrt. Seine Ex-Freundin Kathleen Donahue (Julie Kent) hat in der Zwischenzeit Jonathan geheiratet, was zu ein paar Spannungen zwischen den beiden Alpha-Männchen führt. Jonathan kann es sich allerdings nicht erlauben, seinen besten Tänzer vor den Kopf zu stoßen.

Tanzen mal ohne Trainingsdruck: Charlie und Jody entspannen sich

Der englische Theaterregisseur Nicholas Hytner hat nur eine Handvoll Kinofilme inszeniert, darunter 1994 sein Leinwanddebüt „King George – Ein Königreich für mehr Verstand“ und „Hexenjagd“ (1996). Seine erfolgreiche Arbeit an diversen Bühnenhäusern in Manchester, London und New York City erleichterte ihm zweifellos das Einfühlungsvermögen, das es benötigt, um ein Tanzdrama dieser Güteklasse zu drehen. Obwohl sich viel um Beziehungen, Liebeleien und Eifersüchteleien dreht, gleitet „Center Stage“ nie in trivialen Herzschmerz-Schmonzes ab, vielmehr porträtiert der Film seine Figuren mit Gefühl für ihre emotionalen Belange. Das bleibt bei einigen Themen an der Oberfläche, aber letztlich geht es ums Tanzen. Und Hytner kombiniert das zwischenmenschliche Geschehen mit hervorragend choreografierten Tanzeinlagen, ob im Training oder bei diversen Aufführungen.

Startänzerin doubelt Zoe Saldana

Dabei ist es – jedenfalls für einen Laien wie mich – unmöglich festzustellen, auf welchem balletttänzerischen Niveau sich die Schauspielerinnen und Schauspieler bewegen. In der Besetzung findet sich von Laien bis hin zu Akteurinnen und Akteuren mit professioneller Ballettausbildung die ganze Bandbreite. Für manche Szenen, speziell bei den Aufführungen, hielten Body Doubles her. So wurde beispielsweise Zoe Saldana („Guardians of the Galaxy“), die in „Center Stage“ ihr Filmdebüt gab, von der Startänzerin Aesha Ash gedoubelt.

Jody sucht anderswo Ausgleich vom stressigen Academy-Alltag

Die Tanzszenen choreografierte Susan Stroman, ihres Zeichens renommierte und vielfach preisgekrönte US-Choreografin. Tänzerinnen und Tänzer des New York City Ballet und des ebenfalls im Big Apple angesiedelten American Ballet Theatre agierten als Komparsen in den Übungseinheiten und Workshops von „Center Stage“. Ergebnis: Der Film atmet professionelles Ballett aus jeder Pore. Als Vorbild der American Ballet Academy diente offenbar die School of American Ballet, die dem New York City Ballet angeschlossene Ballettschule.

Freundinnen: Eva und Jody

Das Label justbridge entertainment hat „Center Stage“ ein schmales, gleichwohl attraktiv aufgemachtes Mediabook angedeihen lassen. Wer sich über das kompakte Mediabook-Format bei Koch Films erregen kann, mag sich auch über die dünnen Exemplare von justbridge ärgern, ich kann damit gut leben. Auf der Blu-ray findet sich kein neues Bonusmaterial, aber immerhin sind die erweiterten Tanzszenen, entfallene Szenen und das kurze Featurette enthalten, die 2001 auch schon die DVD ergänzten. Im ansprechend bebilderten Booklet lässt sich mit Christoph N. Kellerbach ein erfahrener Autor auf 20 Seiten über die Entstehung des Films aus, das wertet die Edition auf.

Vorbild „Fame – Der Weg zum Ruhm“

2008 folgte „Center Stage 2“, 2016 mit Center Stage – On Pointe“ sogar ein dritter Teil. Beide Fortsetzungen können dem Vorgänger nicht das Wasser reichen. „Center Stage“ hat sich einiges von Alan Parkers „Fame – Der Weg zum Ruhm“ (1980) abgeschaut, den ich beeindruckender in Erinnerung habe. Letztlich bewegen sich beide im Verbund mit Richard Attenboroughs „A Chorus Line“ (1985) in ähnlichem Terrain. Adrian Lynes „Flashdance“ (1983) hingegen erscheint mir in der Erinnerung weitaus schlechter gealtert, war aber vielleicht auch damals schon eher zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort. Seit 2000 hat sich das Genre des Tanzfilms von diesen eher realistisch inszenierten Tanzschul-Drill zeigenden Filmen entfernt. „Step Up“ (2006) mit Channing Tatum sei als Beispiel genannt – Darren Aronofskys „Black Swan“ (2010) mit Natalie Portman hingegen ist noch einmal von ganz anderem Schlag. „Center Stage“ wirkt im Vergleich zu modernen Produktionen gealtert, mir gefällt das aber deutlich besser.

Superstar: Cooper Nielsen

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Zoe Saldana sind dort in der Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Peter Gallagher unter Schauspieler.

Die große Gala

Veröffentlichung: 13. August 2021 als Blu-ray im limitierten Mediabook, 1. Oktober 2009 als Best of Hollywood 2 Movie Collector’s Pack DVD (mit „Center Stage 2“), 23. Januar 2001 als DVD

Länge: 115 Min. (Blu-ray), 111 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK freigegeben ohne Altersbeschränkung
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Center Stage
USA 2000
Regie: Nicholas Hytner
Drehbuch: Carol Heikkinen
Besetzung: Zoe Saldana, Peter Gallagher, Amanda Schull, Ethan Stiefel, Sascha Radetsky, Christine Dunham, Stephen Stout, Maryann Plunkett, Laura Hicks, Eion Bailey, Barbara Caruso, Jeff Hayenga, Victor Anthony, Susan May Pratt, Shakiem Evans, Ilia Kulik, Karen Shallo, Carlo Alban, Giselle Daly, Debra Monk
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Regisseur Nicholas Hytner, erweiterte Tanzszenen, entfallene Szenen, Featurette, nur Mediabook: 20-seitiges Booklet mit einem Text von Christoph N. Kellerbach, nur DVD: isolierte Musiktonspur, Musikvideo „I Wanna Be with You“ von Mandy Moore, Kinotrailer, Künstlerprofile
Label Mediabook: justbridge entertainment
Vertrieb Mediabook: Rough Trade Distribution
Label/Vertrieb DVD: Sony Pictures Entertainment

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2021 justbridge entertainment

Oh Boy – Er will doch nur einen Kaffee (Filmrezension)

Oh Boy

Erneut ein Gastbeitrag von Volker Schönenberger, dem Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“.

Tragikomödie // Ein Schwarz-Weiß-Film über einen Nichtstuer im heutigen Berlin, der sich auf einen kurzen Zeitraum zwischen einem Morgen und dem nächsten Morgen fokussiert – „Oh Boy“ von 2012 ist nicht gerade eine Produktion, die auf ein großes Publikum schielt, wobei die mehr als 300.000 Kinozuschauerinnen und -zuschauer dafür aller Ehren wert sind. Mit melancholischem Charme und einem guten Auge für sowohl die Hauptfigur als auch ihre Beobachtungen im Lauf dieses Tages hat sich das Werk eine Fangemeinde und viel Kritikerlob gleichermaßen erarbeitet. Und diverse Auszeichnungen: 2012 gab es unter anderem den Bayerischen Filmpreis für Jan-Ole Gersters Drehbuch und Hauptdarsteller Tom Schilling, 2013 folgten der Europäische Filmpreis in der Kategorie bester Nachwuchsfilm und sechs Deutsche Filmpreise in den Kategorien bester Spielfilm in Gold, beste Regie, bestes Drehbuch, beste Musik, beste männliche Hauptrolle und beste männliche Nebenrolle für Michael Gwisdek. Dabei schlug „Oh Boy“ in jenem Jahr sogar die Großproduktion „Cloud Atlas“ von Tom Tykwer und den Wachowskis, obwohl die mit Topstars wie Tom Hanks, Halle Berry, Hugh Grant und Susan Sarandon aufwartete.

Niko weiß nicht, wo sein Platz im Leben ist

Der 1982 in Ost-Berlin geborene Tom Schilling („Werk ohne Autor“, „Brecht“, „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“) gehört zu Deutschlands profiliertesten Schauspielern. In „Oh Boy“ verkörpert er den Endzwanziger Niko Fischer, der zwei Jahre zuvor sein Jurastudium abgebrochen hat, ziellos durchs Leben driftet und auch in puncto Frauen nicht recht weiß, wo die Reise hingeht. Gleich zu Beginn bietet ihm seine Freundin Elli (Katharina Schüttler) kurz vor seinem Aufbruch einen Kaffee an, den er ablehnt. Das erweist sich als Fehler, denn in der Folge versucht Niko vergeblich, anderswo einen Kaffee zu bekommen. Mal fehlt ihm das nötige Kleingeld, mal ist die Kaffeemaschine kaputt – ein schöner kleiner Running Gag, der einen roten Faden bildet.

Der väterliche Geldhahn versiegt

Merke: Wenn dich dein Vater fragt, was du mit den 1.000 Euro gemacht hast, die er dir zwei Jahre lang monatlich im Glauben überwiesen hat, damit dein Studium zu finanzieren, ist Ich habe nachgedacht. Über mich. Über dich. Über alles. wohl nicht die richtige Antwort. Dumm nur, dass Niko keine andere Antwort hat, nachdem ihn sein Vater (Ulrich Noethen) damit konfrontiert, über das abgebrochene Studium im Bilde zu sein. Folge: Der Geldhahn ist versiegt, was erklärt, weshalb Sohnemann kurz zuvor keine Scheine aus dem Geldautomaten ziehen konnte. Immerhin trifft Niko in einem Café auf seine Schulkameradin Julika (Friederike Kempter), die er nach dem Abitur nicht mehr gesehen hatte.

Julika allerdings auch nicht

Ob „Oh Boy“ die urbane Atmosphäre der deutschen Hauptstadt korrekt abbildet und ihre Einwohnerschaft treffend porträtiert, vermag ich mangels ausreichender Berlinkenntnisse nicht zu beurteilen. Menschen bleiben aber Menschen und Drehbuchautor und Regisseur Jan-Ole Gerster gelingt ein präziser Blick auf diverse sehr unterschiedliche Figuren. Er wechselt dabei zwischen Situationskomik und Tragik und stellt seine Figuren nie bloß, nicht mal die Halbstarken Ronny (Frederick Lau), Pascal (Robert Hoffmann) und Kevin (Jakob Bieber), mit denen Niko eine unangenehme Begegnung hat. All seine Begegnungen lassen den jungen Mann ins Grübeln kommen, auch der betrunkene alte Mann (Michael Gwisdek), der von seiner Kindheit während der Nazizeit schwadroniert, dann aber unvermittelt ernste Töne anschlägt. Das ist unspektakulär im besten Sinne, lakonisch umgesetzt und von Kameramann Philipp Kirsamer in erlesenen Bildern jenseits plakativer Berlin-Tourismusansichten fotografiert. Ob diese „Oh Boy“ zu einem Berlinfilm machen, mögen andere bewerten.

Abschlussarbeit von Jan-Ole Gerster

Mit „Oh Boy“ debütierte Gerster 2012 als Spielfilmregisseur. Das Werk war sein Abschlussfilm an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Trotz der verdienten Lorbeeren inszenierte er seitdem allerdings nur einen weiteren Film: das Drama „Lara“ (2019) mit Corinna Harfouch, Rainer Bock und erneut Tom Schilling. Bedauerlich, dass ein Filmemacher mit einem solchen Händchen nicht mehr Engagements bekommt. Immerhin ist seine Lebensgefährtin Friederike Kempter als Schauspielerin gut ausgelastet. Mit „Oh Boy“ hat Gerster ein Kleinod des deutschen Films vorgelegt.

Diese drei Halbstarken noch viel weniger

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Tom Schilling sind dort in der Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Der alte Mann schon eher

Veröffentlichung: 24. Mai 2013 als Blu-ray und DVD

Länge: 86 Min. (Blu-ray), 82 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: Oh Boy
D 2012
Regie: Jan-Ole Gerster
Drehbuch: Jan-Ole Gerster
Besetzung: Tom Schilling, Friederike Kempter, Katharina Schüttler, Justus von Dohnányi, Katharina Hauck, Inga Birkenfeld, Leander Modersohn, Martin Brambach, Ulrich Noethen, Frederick Lau, Michael Gwisdek, Tim Williams, Robert Hoffmann, Jakob Bieber, Rolf Peter Kahl, Theo Trebs, Steffen Jürgens, Ellen Schlootz,
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Jan-Ole Gerster und Tom Schilling, Outtakes, Making-of der Filmmusik (4 Min.), erste Improvisation (5 Min.), entfernte Szene „Dr. Motte“, Castingband Friederike Kempter (3 Min.), Trailershow, Wendecover
Label/Vertrieb: Warner Home Video

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2013 Warner Home Video

Die Überglücklichen – Verwirrte Psyche im Rausch der Gefühle (Filmrezension)

La pazza gioia

Von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Tragikomödie // In der in der malerischen Toskana gelegenen Villa Biondi führt Maria Beatrice Morandini Valdirana (Valeria Bruni Tedeschi) das große Wort, wenn sie mit Sonnenschirm übers Gelände flaniert. Doch schnell wird deutlich: Sie ist nicht freiwillig dort, denn bei dem Anwesen handelt es sich um eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen, und bei Beatrice wurde eine bipolare Störung diagnostiziert.

Patientin als Ärztin

Als eine neue Patientin eingeliefert wird, weckt diese Beatrices Neugier. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hält die junge Donatella Morelli (Micaela Ramazzotti) Beatrice für eine Ärztin, und diese erstellt auch sogleich eine Anamnese. Auch später sucht Beatrice Donatellas Nähe, nimmt die Jüngere unter ihre Fittiche. Eines Tages nehmen die beiden gemeinsam Reißaus. Auf der Flucht nimmt eine ungewöhnliche Freundschaft ihren Lauf.

Redeschwall ohne Ende

Puh, Beatrice erweist sich von Anfang an als Quasselstrippe, bei der sowohl das Filmpublikum als auch die Figuren, auf die sie trifft, aufmerksam bleiben müssen, um ihr zu folgen. Mit der Wahrheit nimmt sie es nicht immer genau, doch nicht alles, was sie erzählt, erweist sich in der Folge als Hirngespinst. Valeria Bruni Tedeschi („Die Bartholomäusnacht“) verkörpert ihre Rolle mit genau dem Maß an Überdrehtheit, das der Part erfordert. Wenn man sich erst an den nicht enden wollenden Redeschwall gewöhnt hat, wächst einem Beatrice unweigerlich ans Herz.

Zwei ungleiche Freundinnen

Will man Tedeschis Filmpartnerin Micaela Ramazzotti („Anni Felici – Barfuß durchs Leben“) Unrecht tun, kann man äußern, sie werde von der Älteren an die Wand gespielt. Doch das trifft es nicht im Geringsten. Vielmehr bildet die ungleich zurückhaltendere und bisweilen von tiefer Traurigkeit erfüllte Donatella einen famosen Gegenpol zu der aufgekratzten Beatrice, die von einer unbändigen Neugier aufs Leben und ihre Mitmenschen erfüllt ist. Da wachsen zwei enorm ungleiche Frauen zusammen, dass es die wahre Freude ist, ihnen dabei zuzusehen. Bevor man mehr von Donatella und ihrem Leben erfährt, vergeht allerdings eine Weile.

Von Psychologen beraten

Jetzt haben wir sogar ein Auto. Wir sind die Überglücklichen. So bemerkt es Beatrice, nachdem sich die beiden kurzerhand ein Fahrzeug unter den Nagel gerissen haben. Regisseur und Drehbuchautor Paulo Virzì („Die süße Gier“) skizziert seine Protagonistinnen mit sehr viel Gefühl. Er ließ sich auch von Psychologen beraten, um dem schwierigen Sujet psychischer Erkrankungen gerecht zu werden. Hier wird niemand zur Schau gestellt, weil er oder sie nicht in ein gesellschaftliches Schema passt und eine seelische Last mit sich herumträgt. Dramatische und humorvolle Momente stehen dabei in großer Harmonie nebeneinander. Von Lebensfreude zu Tragik ist es manchmal eben kein weiter Weg, erst recht nicht, wenn man sowieso sein Päckchen mit sich herumträgt. Die sommerlichen Bilder der Toskana bilden dazu einen reizvollen Kontrast. Das Roadmovie „Die Überglücklichen“ erweist sich als feine Tragikomödie über das Leben.

Veröffentlichung: 25. August 2017 als DVD

Länge: 112 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Italienisch, Audiodeskription für Blinde und Sehbehinderte
Untertitel: Deutsch, Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: La pazza gioia
Internationaler Titel: Like Crazy
IT/F 2016
Regie: Paolo Virzì
Drehbuch: Paolo Virzì, Francesca Archibugi
Besetzung: Valeria Bruni Tedeschi, Micaela Ramazzotti, Valentina Carnelutti, Tommaso Ragno, Sergio Albelli, Luisanna Messeri, Francesco Lagi, Paolo Vivaldi
Zusatzmaterial: Trailershow
Vertrieb: good!movies / Neue Visionen Medien

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Oberer Packshot & Trailer: © 2017 good!movies / Neue Visionen Medien

Withnail and I – Im Rausch von London aufs Land (Filmrezension)

Withnail and I

Einmal mehr eine Gastrezension von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“.

Tragikomödie // Feine Klänge leiten „Withnail and I“ ein: „A Whiter Shade of Pale“, interpretiert von King Curtis (im Original von Procol Harum). Wir befinden uns im Jahr 1969 im Londoner Stadtteil Camden Town. Marwood Paul McGann – er ist der „I“ aus dem Filmtitel – verlässt die Wohnung, die er sich mit seinem Schauspielerkollegen Withnail (Richard E. Grant) teilt. Nach einem Frühstück in einem billigen Arbeiterlokal kehrt er gerade rechtzeitig zurück, damit sich Withnail darüber beklagen kann, dass ihnen der Wein ausgegangen ist. Beide sind offenkundig berauschenden Substanzen zugetan. Als sie über den vor sich hin gammelnden Abwasch in Panik geraten, verlassen, die beiden ihr Heim, um sich bei einem Spaziergang im Park in Selbstmitleid zu üben. Beruflich läuft es suboptimal. Withnail wird nicht einmal mehr zu Vorsprechen eingeladen, und auch Marwoods letzte Rolle liegt etwas zurück. Sie sehen sich als Dandys, die über das Leben philosophieren, obwohl sie nicht einmal ihr eigenes Dasein im Griff haben und es nur mit Drogen ertragen.

Ab in die Provinz!

Ein Erholungstrip aufs Land soll ihr Leben umkrempeln. Es gelingt ihnen, Withnails begüterten Onkel Monty (Richard Griffiths, „Harry Potter“-Reihe) zu überreden, ihnen den Schlüssel zu dessen Landhaus in Nordengland zu überlassen. Anderntags begeben sie sich in Marwoods Rostlaube von Jaguar auf die Reise. Sie ahnen nicht, dass auch die Provinz ihre Tücken hat.

Abgehalftert: Marwood (l.) und Withnail

Im Vereinigten Königreich hat sich „Withnail and I“ nach verhaltenem Start eine gewisse Kult-Anhängerschaft erarbeitet. Da die zwei verkrachten Schauspieler gern mal einen heben, gibt es sogar ein Trinkspiel zum Film. Bei einer von der ehrwürdigen britischen Tageszeitung „The Guardian“ vorgenommenen Umfrage unter Filmschaffenden landete die Tragikomödie 2009 hinter Danny Boyles „Trainspotting – Neue Helden“ (1996) auf einem respektablen zweiten Rang.

Was ist ein „Toilet Trader“?

Von der britischen Bekanntheit kann in Deutschland nicht die Rede sein, dabei sprüht die Tragikomödie vor Esprit. Aufgrund des englischen Sprachwitzes empfiehlt sich die Sichtung mit Original-Tonspur, auch wenn ihr nicht immer einfach zu folgen ist. Dies ist bedingt zum einen durch spezielle Formulierungen, die sich nicht immer adäquat übersetzen lassen, zum anderen durch ein paar Landbewohner mit rustikalem Slang. So musste ich beispielsweise erst einmal nachschlagen, was ein „Toilet Trader“ ist – so bezeichnet man im Englischen einen homosexuellen Mann, der auf öffentlichen Toiletten Sex mit Gleichgesinnten sucht. Dazu passt die Anekdote, dass Regisseur Bruce Robinson bei einer ersten Vorführung des Films regelrecht entgeistert registrierte, dass das Publikum mucksmäuschenstill blieb und bei keinem Gag zu lachen begann. Anschließend stellte er fest, dass der Saal ausschließlich mit deutschen Touristinnen und Touristen gefüllt war, die zufällig in einem benachbarten Hotel abgestiegen waren und von dem englischen Wortwitz überhaupt nichts verstanden. Ob die deutsche Synchronisation dem Original gerecht wird, vermag ich nicht zu beurteilen, da ich auf den Kauf einer deutschen Edition zugunsten des schönen englischen Steelbooks verzichtet habe.

Die beiden Schauspieler beschließen …

Auf eine sonderbare Art und Weise lässt „Withnail and I“ uns schmunzeln, auch wenn sich die beiden Titelhelden schnell als mitleiderregende, von Ängsten und Neurosen getriebene Gestalten entpuppen. Während Paul McGann eher zurückhaltend agiert, spielt sich Richard E. Grant die Seele aus dem Leib. Für beide war ihr jeweils erster Auftritt in einem Kinofilm ein Sprungbrett, das sie auch nach Hollywood führte: McGann spielte unter anderem in Steven Spielbergs „Das Reich der Sonne“ (1987), David Finchers „Alien 3“ (1992) und Stephen Hereks „Die drei Musketiere“ (1993). Von 2007 bis 2011 verkörperte er den achten „Doctor Who“. Grant war 1991 in „L.A. Story“ an der Seite von Steve Martin und in „Hudson Hawk – Der Meisterdieb“ neben Bruce Willis zu sehen, 1992 gab er den Dr. Seward in Francis Ford Coppolas „Bram Stoker’s Dracula“. Mit „Logan“ (2017) und „Star Wars: Episode IX – Der Aufstieg Skywalkers“ (2019) stehen sogar zwei große Hollywood-Franchises in seiner Filmografie zu Buche. Für seine Nebenrolle in der biografischen Krimikomödie „Can You Ever Forgive Me?“ (2018) wurde er immerhin für Oscar und Golden Globe nominiert. Während sich Grant in Hollywood etabliert hat, ist McGann stets dem englischen Fernsehen treu geblieben.

Von Franco Zeffirelli angebaggert

Der „on location“ gedrehte „Withnail and I“ wirkt trotz des Wechsels zwischen London und dem Lande reduziert, konzentriert sich auf wenige Schauplätze, die aber umso präziser ins Bild gesetzt sind. Ungewöhnlich, in den späten 80er-Jahren einen Blick auf die ausklingenden 60er zu werfen, in der zwei kauzige Gestalten wie aus der Zeit geworfen erscheinen. Etwas aus der heutigen Zeit gefallen sind sowohl die aufdringlichen Avancen, die Withnails schwuler Onkel Monty Marwood macht, als er den beiden einen Überraschungsbesuch auf dem Lande abstattet, als auch Marwoods unbeholfene Abwehr derselben. Schuld daran ist eine kleine Gemeinheit Withnails, der zuvor Monty gegenüber eine homosexuelle Veranlagung Marwoods angedeutet hatte. Dem Vernehmen nach beruht diese Szene auf Erfahrungen, die Regisseur Bruce Robinson als Schauspieler am Set von Franco Zeffirellis „Romeo und Julia“ (1968) einst selbst gemacht hatte, als ihn der Regisseur persönlich anbaggerte.

… aufs Land zu fahren

Für den Engländer Bruce Robinson war „Withnail and I“ das Regiedebüt, das er nach eigenem Drehbuch inszenierte – sein zweites Skript nach dem zu Roland Joffés Kambodscha-Kriegsdrama „Killing Fields – Schreiendes Land“ (1984), für das er Oscar- und Golden-Globe-Nominierungen erhalten hatte. Bedauerlich, dass ihm als Drehbuchautor wie Regisseur nur eine kurze Karriere beschieden war. Nach „Kopf an Kopf“ (1989, erneut mit Richard E. Grant), „Jennifer 8 ist die Nächste“ (1992) mit Andy Garcia und Uma Thurman sowie „Rum Diary“ (2011) mit Johnny Depp wurde es ruhig um Robinson.

Schaut es euch an, ihr Deutschen!

Trotz des Alkohol- und Drogennebels, der speziell Withnail konstant umwabert, ist die Tragikomödie von großer Klarheit erfüllt. Bruce Robinson enthüllt seine Figuren, stellt sie aber niemals bloß, sondern behandelt sie mit Respekt und Liebe. „Withnail and I“ hat seinen Abdruck in der britischen Popkultur und im englischen Sprachgebrauch gleichermaßen hinterlassen. Ein höherer Bekanntheitsgrad auch in Deutschland ist der wunderbar melancholischen Tragikomödie zu wünschen. Sie hat es verdient, und bei allen britischen Eigentümlichkeiten stellt sie auch für deutsche Filmfans einen Hochgenuss dar.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Richard E. Grant sind dort in der Rubrik Schauspieler aufgelistet.

Im betulichen Café machen sie sich schnell unbeliebt

Veröffentlichung: 7. September 2012 als Blu-ray und DVD, 19. Januar 2007 als DVD

Länge: 107 Min. (Blu-ray), 103 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Withnail and I
GB 1987
Regie: Bruce Robinson
Drehbuch: Bruce Robinson
Besetzung: Richard E. Grant, Paul McGann, Richard Griffiths, Ralph Brown, Michael Elphick, Daragh O’Malley, Michael Wardle, Una Brandon-Jones
Zusatzmaterial: Audiokommentar mit Bruce Robinson, Audiokommentar mit Paul McGann und Ralph Brown, Featurette „Die Handmade Story“ (24:36 Min.), Featurette „Postcards from Penrith (20:54 Min.), Interview mit Bruce Robinson (14:20 Min.), 2 englische Trailer, deutscher Trailer, Dokumentation „Withnail & Us“ (24:49 Min.), Hinter-den-Kulissen-Bildergalerie (0:59 Min.), Featurette „Swear-a-Thon“ (1:14 Min.), Featurette „Drinking Game“ (14:57 Min.)
Label 2012: Black Hill Pictures / Spirit Media
Vertrieb 2012: Koch Media (Koch Films)
Label/Vertrieb 2007: Sunfilm (Tiberius Film

Copyright 2021 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2012 Black Hill Pictures / Spirit Media

Die letzten Glühwürmchen – Trauriger geht’s nimmer (Filmrezension)

Hotaru no haka

Wieder ein Gastbeitrag von Volker Schönenberger von unserem Partner-Blog „Die Nacht der lebenden Texte“.

Anime-Kriegsdrama // Am 21. September 1945 bin ich gestorben. Dieser „Ich“, das ist Seita, der zerlumpt und abgemagert in einer japanischen Bahnhofshalle kauert, zusammensackt und seinen letzten Atemzug aushaucht. Ein Bahnbediensteter entdeckt den Leichnam, nimmt das tragische Ereignis achselzuckend hin, weil es offenbar an der Tagesordnung ist.

Der Prolog von „Die letzten Glühwürmchen“ nimmt das Ende vorweg, und das ist auch gut so. Das Anime-Kriegsdrama von 1988 ist traurig genug. Hätten wir auch noch die Hoffnung auf ein Happy End, die aber im Finale zerstört würde, würden wir anschließend womöglich noch bedrückter und bewegter sein, als wir es ohnehin sind.

Bomben auf Kōbe

Die Handlung springt zurück in die Zeit der Luftangriffe auf Kōbe, die von Februar bis August 1945 andauerten. US-Bomber nähern sich der japanischen Großstadt. Seita und seine kleine Schwester Setsuko verpassen den Zeitpunkt, die Luftschutzbunker zu erreichen. Um sie herum entfachen Brandbomben einen Feuersturm, dem die in typisch japanischer Leichtbauweise errichteten Häuser reiche Nahrung bieten. Er und seine auf seinen Rücken geschnallte Schwester überleben knapp. In einem behelfsmäßig eingerichteten Lazarett trifft Seita auf seine Mutter, die schwerste Verbrennungen erlitten hat und im Sterben liegt. Kurz darauf wird ihr Leichnam gemeinsam mit vielen anderen verbrannt.

Ein Junge stirbt

Die Geschwister kommen für eine Weile bei einer Tante unter, die sich nach einer Phase der Eingewöhnung als recht kaltherzig erweist. So wirft sie Seita Faulheit vor, weil er nichts tut, außer sich um Setsuko zu kümern, der sein gesamtes Pflichtbewusstsein gilt. Schließlich entscheidet der Junge, mit seiner Schwester in eine Höhle umzuziehen, die er entdeckt hat. Dort müssen die beiden fortan dem Hunger und den Krankheiten trotzen.

„Warum sterben die Glühwürmchen so schnell?“

Schon wenn Setsuko kurz nach dem Bombenangriff Ich will zu meiner Mama schluchzt, zerreißt es einem das Herz, und es wird nicht weniger traurig, im Gegenteil. Selbst wenn die Kleine unbeschwerte Gedanken äußert, bringt das keine Erholung von der Tragik, sondern vertieft sie noch, da wir wissen, dass Setsukos Unbeschwertheit eine Illusion ist. Eines Tages entdeckt Seita, wie seine Schwester ein kleines Grab für einen Haufen Glühwürmchen buddelt. Mama ist doch auch in einem Grab, oder? Längst hat Setsuko von der Tante vom Tod der Mutter erfahren. Wenn Seita daraufhin zum ersten Mal die Tränen nicht mehr zurückhalten kann, muss man schon ein arg grober Klotz sein, um keinen Kloß im Hals zu verspüren. Warum sterben die Glühwürmchen bloß so schnell, Seita? So fragt ihn Setsuko und beginnt ebenfalls zu weinen. Wir ahnen: Auch die beiden sind Glühwürmchen, die viel zu schnell verglühen werden.

Vom Regisseur von „Heidi“

Von den deutschen Anime-Fans abgesehen, dürfte die 52-teilige Anime-Serie „Heidi“ von 1974 hierzulande die bekannteste Regiearbeit von Isao Takahata sein – sie lief ab 1977 im ZDF. „Die letzten Glühwürmchen“ bildete 1988 Takahatas Debüt für die heute legendäre Anime-Schmiede Studio Ghibli, zu deren Gründern er zählt und das solche Klassiker wie „Prinzessin Mononoke“ (1997), „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) und „Das wandelnde Schloss“ (2004) hervorbrachte. Er selbst inszenierte noch das Melodram „Tränen der Erinnerung – Only Yesterday“ (1991), das Märchen „Pom Poko“ (1994), die Familienkomödie „Meine Nachbarn die Yamadas“ (1999) und das Märchen „Die Legende der Prinzessin Kaguya“ (JAP 2013).

Seita und Setsuko fliehen vor den Flammen

Nach einem auf Kriegserinnerungen des Schriftstellers Akiyuki Nosaka basierenden Roman gedreht, hebt sich „Die letzten Glühwürmchen“ visuell von Takahatas übrigen Ghibli-Regiearbeiten und vielen anderen Animes ab, weil viele der Hintergründe und Landschaften deutlich naturalistischer als üblich gezeichnet sind. Die Gesichter erscheinen mir recht typisch gezeichnet, wenn ich mir diese Bemerkung als Anime-Laie erlauben darf. Doch selbst wem dieser Zeichenstil fremd bleibt, wird nicht umhin kommen, das Leid von Seita und Setsuko hautnah nachzuempfinden. „Die letzten Glühwürmchen“ belässt den Fokus ununterbrochen auf den beiden Geschwistern, die uns dadurch sehr ans Herz wachsen. Das macht insbesondere das Ertragen des knapp 20-minütigen Schlussakkords umso schwerer.

Sehr erwachsenes Anime-Meisterwerk

Abschließend möchte ich auf die Rezension von „Die letzten Glühwürmchen“ bei „Die Nacht der lebenden Texte“ verweisen. Durch deren Autor Matthias Holm bin ich erstmals nachhaltig mit dem Anime-Sektor in Berührung gekommen. Ich bin kein großer Fan dieses urjapanischen Bereichs der Animationsfilme geworden, habe aber ein paar herausragende Animes entdeckt. „Die letzten Glühwürmchen“ ist eines davon. Trotz zweier Kinder als Protagonisten sehr erwachsen, meisterhaft und dabei tieftraurig. Eine Antikriegsbotschaft in Vollendung, auch wenn Isao Takahata die pazifistische Intention seiner Arbeit verneint hat.

Veröffentlichung: 30. November 2018 als Collector’s Candybox Edition Blu-ray, 27. September 2013 als Blu-ray, 26. November 2007 als Deluxe Edition Doppel-DVD, 27. August 2002 als DVD

Länge: 89 Min. (Blu-ray), 85 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen: Deutsch, Japanisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Hotaru no haka
DDR-Titel: Das Grab der Leuchtkäfer
Internationaler Titel: Grave of the Fireflies
JAP 1988
Regie: Isao Takahata
Drehbuch: Isao Takahata, nach einem Roman von Akiyuki Nosaka
Zusatzmaterial: Interview mit Isao Takahata, Making-of, Gespräch mit dem Filmstab, nur Candybox Edition: 24-seitiges Booklet, 3 Artcards, Novelle „Das Grab der Leuchtkäfer“
Label/Vertrieb: KAZÉ / AV Visionen GmbH

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenbilder & Packshots: © KAZÉ / AV Visionen GmbH

Private Parts – Über den Superstar der Radio-DJs (Filmrezension)

Private Parts

Nächster Gastbeitrag von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“.

Komödie // Ich möchte wissen, was er als Nächstes sagt. So begründen bei einer Umfrage unter Radiohörern die Fans von Howard Stern, weshalb sie dem kontroversen Moderator eine Stunde und 20 Minuten die Treue halten, obwohl der durchschnittliche Radiohörer allgemein lediglich schlappe 18 Minuten bei der Stange bleibt. Überraschenderweise übertreffen die Howard-Stern-Hasser diesen Wert deutlich – sie hören ihm satte zweieinhalb Stunden am Tag zu. Ihre häufigste Begründung: Ich möchte wissen, was er als Nächstes sagt.

Vom linkischen Anfänger zum …

Der 1954 im New Yorker Stadtteil Queens geborene Howard Stern spielt sich in 1997er-Biopic von Betty Thomas („Dr. Dolittle“) selbst. Der Filmtitel wartet mit einer schönen Doppeldeutigkeit auf: Zum einen ist „Private Parts“ ein Euphemismus der prüden Amerikaner und Engländer für die Geschlechtsteile der Menschen, zum anderen hat Howard Stern im Lauf seiner Karriere als Radio-DJ und -Moderator nie davor zurückgeschreckt, höchst private Details seines Lebens über den Äther zu verbreiten. Der Film beruht auf Sterns gleichnamiger Autobiografie.

Ein Kindheitstraum erfüllt sich

Nach einem Einstieg aus der Zeit des schon landesweit bekannten Unruhestifters Howard Stern springt „Private Parts“ weit zurück bis in die Kindheit. Als erzählerische Klammer fungiert ein Flug, bei dem sich die schöne Gloria (Carol Alt) widerwillig neben den berüchtigten Moderator setzt und er ihr daraufhin seine Lebensgeschichte erzählt: Sein missmutiger Vater (Richard Portnow) lässt am kleinen Howard (Bobby Boriello) kein gutes Haar. Vater-und-Sohn-Unternehmungen beschränken sich darauf, dass der Junge einmal im Jahr zu dem Radiosender mitkommt, bei dem sein alter Herr arbeitet. Die Art und Weise, wie Daddy den renitenten Radio-DJ Symphony Sid (Richard B. Shull) zurechtweist, beeindruckt Howard so sehr, dass er von da an den Traum hat, beim Radio zu arbeiten. Nach kurzen Impressionen des zwölfjährigen (Michael Maccarone) und des 16-jährigen Howard (Matthew Friedman) übernimmt der echte Howard Stern ab der Zeit an der Universität von Boston selbst. Aus dem Off kommentiert er: Okay, ich weiß, was Sie sagen. Sie sagen, ich seh’ ein bisschen alt aus für’n Studenten. Aber für diesen Film müssen Sie Ihre Skepsis einfach mal vergessen. Ein schönes Durchbrechen der vierten Wand.

… Superstar der Radiomoderatoren: Howard Stern

Als College-Student versucht er so hartnäckig wie vergeblich, beim weiblichen Geschlecht zu landen. Mit Schnauzbart, schräger Lockenfrisur und überdimensionaler Brille fällt ihm das allerdings schwer – bis er Alison (Mary McCormack) trifft, in die er sich stehenden Fußes verliebt. Seine Anfänge beim Collegeradio gestalten sich holprig, da er sich eher unbeholfen und nervös gebärdet. Im Mai 1977 beginnt Howard aber endlich seine professionelle Laufbahn als Radio-Discjockey beim Sender WRNW (heute WXPK) in Briarcliff Manor, einem Vorort von New York City (Wikipedia datiert Sterns Karrierestart allerdings auf 1976). Nach einiger Zeit wechselt er zum Sender WCCC in Hartford, Connecticut, wo er sich mit seinem Kollegen Fred Norris (spielt sich ebenfalls selbst) anfreundet, den er später zu einen anderen Arbeitgeber nachholen wird.

Keine Lust auf Countrymusik

Das Biopic arbeitet die Stationen seiner Laufbahn wohl einigermaßen akkurat ab. Das klingt nicht unbedingt mitreißend. Mitreißend gestaltet es sich aber, wie Howard nach und nach seinen anarchischen Humor entwickelt und sich am Mikrofon zum einen von spontanen Einfällen leiten lässt, zum anderen bizarre Einlagen ausarbeitet. Nachdem er bei einem Detroiter Sender gekündigt hat, weil der sein Programm in Richtung Countrymusik ausrichtete, kommt ihm der Geistesblitz: Ich sollte über mein Privatleben reden, ich muss jetzt intim werden. Und jedes Mal, wenn ich das Gefühl habe, ich sollte etwas nicht sagen, sollte ich es vielleicht gerade sagen. Damit rausplatzen, verstehst du? Das setzt er bei seiner nächsten Station WWDC um, wo er auf die Nachrichtensprecherin Robin Quivers (auch sie spielt sich selbst) trifft, mit der er sich fortan die bizarren Bälle zuspielt. Als seine dortige Chefin Dee Dee ist die spätere Oscar-Preisträgerin Alison Janney („I, Tonya“) zu sehen.

Howards große Liebe: Alison

Howard scheut sich nicht, Wörter wie „Penis“ und „Hoden“ ins Mikrofon zu sprechen. Mal behauptet er, in Vietnam Kinder mit einer Handgranate getötet zu haben (obwohl er für den Vietnamkrieg viel zu jung ist); mal verpasst er einer Hörerin einen Orgasmus, indem er sie verleitet, sich auf ihren Lautsprecher zu setzen, woraufhin er tiefe Basstöne ins Mikrofon brummt, die ihre Tieftöner zum Vibrieren bringen. Howard thematisiert in der Sendung sogar die Fehlgeburt, die seine Ehefrau Alison erlitten hat. Das missfällt ihr erwartungsgemäß ein wenig.

Ein paar Obszönitäten gehören dazu

Ein Biopic über einen Radiomoderator – klingt nicht ausgesprochen fesselnd. Kann das als Film funktionieren? Lasst euch versichern: Es kann! Aber zugegeben: Mit Anzüglichkeiten und Körperflüssigkeits-Gags sollte man umgehen können. „Private Parts“ ist schreiend komisch und bis in Nebenrollen famos besetzt. Als Programmdirektor Kenny „Pig Vomit“ Rushton beim Sender WNBC in New York City ist Paul Giamatti („Die Truman Show“) zu sehen. Rushton versichert den Bossen des Radiosenders, den hemmungslosen Moderator zu zähmen, beißt sich daran aber die Zähne aus.

Mit Kenny „Pig Vomit“ Rushton (r.) liefert er sich erbitterte Scharmützel

Heavy-Rock-Fans sollten von Anfang an aufmerksam sein, da einige echte Helden durchs Bild wandern. So faucht ihn Dee Snider von Twisted Sister kurz an, und von Ozzy Osbourne bekommt Stern ein Was für’n verdammtes Arschloch! (im Original: „What a fucking jerk!“) um die Ohren geraunzt. Das sagt der Richtige, möchte man meinen. Da Howard Stern ein ausgewiesener Fan von Rockmusik und speziell auch harter Rockmusik ist, ist sein Biopic passend dazu mit den richtigen Klängen versehen. Bis am Ende sogar AC/DC aufspielen.

Superstar und Multimillionär

Seit 2006 ist Howard Stern bei einem digitalen Satellitenradio-Sender beschäftigt, da er dort vor Zensurbestrebungen der Aufsichtsbehörde Federal Communications Commission weitgehend sicher agieren kann. Das üppige Salär wird ebenfalls eine Rolle gespielt haben – dem Vernehmen nach ist er Multimillionär. „Private Parts“ erzählt die Geschichte, wie es dazu kam. Unbedingt sehenswert!

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme mit Allison Janney und Mary McCormack sind dort in der Rubrik Schauspielerinnen aufgelistet, Filme mit Paul Giamatti unter Schauspieler.

Howard und sein Team in ihrem Element

Veröffentlichung: 5. November 2020 als Blu-ray, 10. April 2003 als DVD

Länge: 109 Min. (Blu-ray), 105 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch, Französisch
Untertitel: Deutsch, Englisch, Französisch
Originaltitel: Private Parts
USA 1997
Regie: Betty Thomas
Drehbuch: Len Blum, Michael Kalesniko, nach einer Vorlage von Howard Stern
Besetzung: Howard Stern, Mary McCormack, Robin Quivers, Fred Norris, Paul Giamatti, Allison Janney, Gary Dell’Abate, Jackie Martling, Carol Alt, Richard Portnow, Kelly Bishop, Henry Goodman, Michael Murphy, John Stamos, Flavor Flav, Jenna Jameson, M. C. Hammer, Ted Nugent, Ozzy Osbourne, John Popper, Slash, Dee Snider, David Letterman, AC/DC (Brian Johnson, Angus Young, Malcolm Young, Phil Rudd, Cliff Williams), Iggy Pop
Zusatzmaterial: keins
Label: Paramount Pictures
Vertrieb: Universal Pictures Germany GmbH

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Paramount Pictures

Der rote Korsar – Lustig ist das Piratenleben (Filmrezension)

The Crimson Pirate

Die nächste Gastrezension von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Abenteuer // Gleich in der ersten Szene schwingt sich Burt Lancaster mit einem Tampen von einem Segelbaum zu einem anderen und präsentiert uns sowohl seinen durchtrainierten Oberkörper als auch sein berühmtes Grinsen mit gebleckten Zähnen. Dann durchbricht er sogar die vierte Wand, richtet das Wort ans Publikum und kündigt an, wir seien nun zur letzten Reise des roten Korsaren geschanghait worden. Stellt keine Fragen! Glaubt nur, was Ihr seht! … Nein – glaubt nicht einmal die Hälfte davon! Diese Ansage gibt den Ton vor, wir bekommen es also mit zünftigem Seemannsgarn zu tun.

Es winkt eine fette Prise

Nach dem Vorspann setzt die Handlung im späten 18. Jahrhundert auf einer mit 30 Kanonen bestückten Fregatte der königlich britischen Marine ein, die sich auf einer Mission in der Karibik befindet. Ein anderer Segler wird gesichtet – ein vermeintliches Totenschiff voller Leichen, die wohl der Skorbut dahingerafft hat. Doch das erweist sich als Finte des Piratenkapitäns Vallo (Burt Lancaster), der den englischen Segler mit seinen Männern im Handstreich kapert.

Kapitän Vallo (l.) und Ojo werden von Consuelo befreit

Unter den nun Gefangenen befindet sich Baron Gruda (Leslie Bradley), Sondergesandter des Königs, der sich auf dem Weg zur Insel Cobra befindet, um dort eine Rebellion niederzuschlagen. Vallo beabsichtigt, die erbeuteten Waffen an den Rebellenführer El Libre (Frederick Leister) zu verkaufen, lässt sich dann aber auf einen Handel mit Gruda ein: Er willigt ein, dem Baron gegen Bezahlung El Libre auszuliefern.

„Es lebe die Republik!“

Welch ausgelassener Klamauk: Kaum auf Cobra eingetroffen, provoziert Vallo mit kernigen Ausrufen Es lebe die Republik! und Es lebe El Libre! eine Schar britischer Soldaten und lässt sich mit seinem stummen Begleiter Ojo (Nick Cravat) auf eine zünftige Verfolgungsjagd durch die Gassen des Örtchens ein. Dieses Spektakel dient offenbar dem Zweck, die Rebellen auf ihre Seite zu ziehen. Wie sich zeigt, befindet sich El Libre allerdings im Kerker der Festung des Königs auf der Insel Pero, und Pablo (Noel Purcell), der deshalb das Kommando über die Rebellen übernommen hat, traut Vallo nicht über den Weg. El Libres schöne Tochter Consuelo (Eva Bartok) hingegen hilft dem roten Korsaren. Es geht komödiantisch weiter: Als Vallo als Baron Gruda getarnt auf Pero eintrifft, um El Libre zu befreien, sprengen er und Ojo einen ihm zu Ehren gegebenen Empfang des Obersts (Frank Pettingell) der dortigen Garnison. Generell zeigt der Film die britischen Soldaten gern als unbeholfene Trottel, die sich einfach überrumpeln lassen.

Gewagtes Spiel in der McCarthy-Ära

Dennoch geht es nicht nur komödiantisch zu. Vallo verliebt sich natürlich in Consuelo – und sie sich in ihn –, woraufhin er von seinem Plan abkommt, El Libre auszuliefern. Das führt zu dramatischen und auch tragischen Verwicklungen, wobei das Abenteuer aber nie seine Leichtigkeit verliert. Positiv hervorzuheben ist auch der politische Subtext, beginnend schon beim Titel, der als Anspielung auf die Roten – mithin Kommunisten – verstanden werden kann. Auch der Kampf der Freibeuter und Rebellen gegen die herrschende Macht trägt durchaus linke Züge, bemerkenswert mitten in der McCarthy-Ära. Vielleicht verhinderte der farbenfrohe Charakter des Spektakels, dass die Kommunistenjäger des Komitees für unamerikanische Umtriebe bei „The Crimson Pirate“ Lunte rochen.

Der Pirat und die Schönheit stechen in See

Den Trivia der IMDb zufolge war Vallos Adjutant Ojo deshalb stumm, weil der breite Brooklyn-Akzent des New Yorkers Nick Cravat in einem derartigen Historienfilm deplatziert gewesen wäre. Lancaster und Cravat waren seit Kindesbeinen Freunde und ab 1932 gemeinsam als Akrobaten tätig. Dazu passen einige Show-Einlagen, die die beiden im Film präsentieren. Cravat war keine große Karriere als Schauspieler beschieden, immerhin brachte sein Kumpel Lancaster ihn gelegentlich unter. In „Trapez“ (1956) war er sogar dessen Stunt-Double – kaum zu glauben, da er deutlich kleiner war als der Superstar. Cravat ist in insgesamt elf Filmen mit Lancaster zu sehen, darunter „U 23 – Tödliche Tiefen“ (1958), „Valdez“ (1971), „Keine Gnade für Ulzana“ (1972) und „Die Insel des Dr, Moreau“ (1977), wenn auch bisweilen nur in Komparsenrollen. Er starb 1994 im Alter von 82 Jahren.

Lancasters erste Produktion, Siodmaks letzte Hollywood-Arbeit

„Der rote Korsar“ markiert Burt Lancasters erste Arbeit als Produzent, auch wenn er im Vorspann nicht als solcher genannt ist. Diese Funktion ermöglichte es ihm, massiven Einfluss auf die Dreharbeiten zu nehmen, um sich im Film selbst zu inszenieren und als strahlende Hauptfigur zu präsentieren; sehr zum Missfallen von Robert Siodmak, der das Heft als Regisseur verständlicherweise selbst in der Hand behalten wollte. Der Deutsche war womöglich schon vorher von Hollywood frustriert, und die Reibereien mit seinem „The Crimson Pirate“-Titeldarsteller brachten das Fass zum Überlaufen: Siodmak kehrte der Traumfabrik den Rücken und drehte bis zu seinem Karriereende 1969 nur noch in Europa. Vier Jahre später starb er im Alter von 72 Jahren. Vor „Der rote Korsar“ hatte er mit Lancaster die beiden Noirs „Die Killer“ (1946) und „Gewagtes Alibi“ (1949) gedreht.

Dort wird die Lage brenzlig

Die 2006 veröffentlichten DVDs sind längst vergriffen, da war es höchste Zeit für eine Neuauflage des jederzeit launigen Piraten-Abenteuers. Ganz frei von Kritik ist die DVD von Pidax Film nicht. Zwar zeigt das Bild im 4:3-Format (1,33:1) die Technicolor-Farben des Films in guter Qualität, und auch die deutsche Synchronisation klingt anständig; die englische Originaltonspur lässt aber etwas zu wünschen übrig, wirkt unsauber und zu dumpf. Auch fehlen sowohl deutsche als auch englische Untertitel. Manche Fans von „Der rote Korsar“ werden obendrein enttäuscht sein, dass Robert Siodmaks Regiearbeit parallel nicht auch auf Blu-ray erschienen ist. Das mag aber nicht dem Label anzulasten sein, da es meines Wissens weltweit überhaupt keine Blu-ray des Films gibt. Womöglich existiert kein HD-fähiges Material. Bedauerlich, eignet sich gerade Technicolor doch vorzüglich fürs Blu-ray-Format. Nennenswertes Zusatzmaterial enthält die neue DVD nicht, immerhin hat Pidax als gedruckten Bonus ein Faksimile der Illustrierten Film-Bühne Nr. 1821 beigelegt. Wie für die zeitgenössische Publikation üblich, enthält auch diese Ausgabe eine vollständige Inhaltsangabe, die Lektüre empfiehlt sich somit erst nach Sichtung des Films (wobei man sie dann natürlich gar nicht mehr benötigt). „Der rote Korsar“ bringt auch heute noch viel Freude – ein prächtig ausgestattetes Freibeuter-Spektakel mit einer Paraderolle für Burt Lancaster.

Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Robert Siodmak sind dort in der Rubrik Regisseure aufgelistet, Filme mit Burt Lancaster und Christopher Lee unter Schauspieler. Ansgar Skulme hat 2016 für „Die Nacht der lebenden Texte“ eine Rezension von „Der rote Korsar“ verfasst.

Veröffentlichung: 14. August 2020 als DVD, 9. November 2006 als DVD (SZ Junge Cinemathek), 23. Juni 2006 als DVD

Länge: 100 Min.
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch für Hörgeschädigte
Originaltitel: The Crimson Pirate
USA 1952
Regie: Robert Siodmak
Drehbuch: Roland Kibbee
Besetzung: Burt Lancaster, Nick Cravat, Eva Bartok, Torin Thatcher, James Hayter, Leslie Bradley, Noel Purcell, Christopher Lee, Frederick Leister, Frank Pettingell
Zusatzmaterial: Trailershow, Nachdruck der Illustrierten Film-Bühne Nr. 1821, Wendecover
Label 2020: Pidax Film
Vertrieb 2020: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2006: Süddeutsche Zeitung bzw. Warner Home Video

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & oberer Packshot: © 2020 Pidax Film

Als Hitler den Krieg überlebte – Fesselndes Gedankenspiel über Gerechtigkeit (Filmrezension)

Já, spravedlnost

Gastrezension von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

SF-Thrillerdrama // Das optional vorangestellte Intro zeigt Bilder letzter Straßenkämpfe und vorrückende Militäreinheiten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Eine Texteinblendung verrät, Adolf Hitler habe am 29. April 1945 im Bunker sein politisches und persönliches Testament verfasst und im Anschluss Eva Braun geheiratet. Am 30. April nahmen sich beide das Leben, ihre Leichen seien mit Benzin übergossen und vor dem Notausgang des Bunkers im Garten der Neuen Reichskanzlei verbrannt worden. Der Führerbunker wurde zerstört, Berlin war gefallen und das 3. Reich existierte nicht mehr. Der Führer war tot. Jedoch wurde nie wirklich bewiesen, was mit Hitler geschah.

Kann es Gerechtigkeit für millionenfachen Mord geben?

Die tschechoslowakische Produktion „Als Hitler den Krieg überlebte“ beginnt mit ein paar Bildern vom Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher. Eine Stimme aus dem Off äußert: Die Richter sollen Gerechtigkeit üben – Gerechtigkeit gegenüber millionenfachen Mördern. Reichen dazu die Gesetze aus? Hat nicht jeder, der diesen Weltbrand überlebt hat, seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit?

Wird Hitler hingerichtet?

Irgendwann in der Nachkriegszeit erreicht ein Auto Schloss Lilienburg in der Schweiz, in welchem sich das Privatsanatorium von Professor Doktor Rolf Harting (Jirí Vrstála) befindet. Er und ein paar Gleichgesinnte schmieden einen Plan. Dazu benötigen sie den in einer Prager Klinik praktizierenden Doktor Josef Herman (Karel Höger), der einem verstorbenen anderen Arzt ähnelt. Herman wird entführt, man versucht, ihn einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Man redet ihm ein, er sei ein gewisser Doktor Bruno Wollmann. Dann wird er von Männern in Nazi-Uniform zu einem Patienten (Fritz Diez) gebracht. Der entpuppt sich als Adolf Hitler persönlich! Er steht offenbar unter Medikamenteneinfluss und hält Herman tatsächlich für Wollmann.

Wer kennt „Vaterland“?

Hitler hat also überlebt. Der Gedanke ist nicht neu, dazu existieren diverse Verschwörungstheorien, auf die ich hier nicht eingehen will. Auch Literatur und Film haben das Thema bereits in fiktionaler Form aufgegriffen, erinnert sei an Robert Harris’ 1992 veröffentlichten Debütroman „Vaterland“, der seinerzeit in Deutschland kontrovers aufgenommen wurde. Darin hat Hitler-Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen, die Handlung spielt zu einem Zeitpunkt, als sich das Deutsche Reich mit den USA im Kalten Krieg befindet. Ich kann die Lektüre empfehlen, auch die zwei Jahre später entstandene gleichnamige Verfilmung mit Rutger Hauer als Kriminalbeamter hat ihren Reiz.

Harting (l.) und Herman haben unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit

Handelt es sich bei „Vaterland“ um eine Form der Alternativweltgeschichte, so verfolgt „Als Hitler den Krieg überlebte“ einen anderen Ansatz. Hier geht es nicht um einen alternativen Verlauf des Zweiten Weltkriegs, sondern darum, dass sich Hitler nach dem Untergang des „Dritten Reichs“ der Verantwortung entzogen hat und geflohen ist, dabei aber der Gruppierung um Doktor Harting in die Hände fiel. Wir haben es eher mit einer Parabel zu tun, welche die Frage aufwirft, ob es möglich ist, dass fanatischer Antifaschismus selbst in eine Form des Faschismus mutieren kann. Ebenso bekommt das Thema Gerechtigkeit in Bezug auf Schuld und Sühne breiten Raum.

Ab hier zwei Absätze mit Spoilern

Die Organisation um Doktor Harting hält Hitler gefangen, um ihn zu quälen. Dabei zeigt sie sich von einer Skrupellosigkeit ergriffen, die der Adolf Hitlers nicht viel nachsteht. Dass dem ehemaligen GröFaZ eine Scharade vorgespielt wird, kann man womöglich noch rechtfertigen, auch wenn es völlig sinnlos erscheint. Aber die Verschwörer schrecken auch vor Mord nicht zurück, spielen sich als Richter und Henker auf, speziell nach einem Überfall von Faschisten. Auch mit Scheinhinrichtungen vermeintlicher Nazis wird Hitler getäuscht. Dies nimmt Doktor Herman alias Wollmann sichtlich mit. Schließlich kommt Hitler unter die Guillotine, doch bevor das Fallbeil ihn enthauptet, befreien ihn wiederum uniformierte Nazis. Befreien? Von wegen, auch hierbei handelt es sich um eine Illusion.

Einmal mehr verlangt Herman von Harting, Hitler der Gerechtigkeit in Nürnberg zu überantworten. Hartings Antwort: Ich bin selbst die Gerechtigkeit! Ein Anhänger rechtsstaatlicher Strukturen und Verfahren ist der Verschwörer sicher nicht. Der entführte Arzt ist zwar auch emotional mittendrin, fungiert aber auch als Meta-Ebene, auf die sich das Publikum des Films stellen kann. Mit Hermans Augen erkennen wir das perfide Spiel, das mit Hitler gespielt wird. Welchem Zweck es dient, wird nie deutlich ausgesprochen, weshalb es spekulativ bleibt. Womöglich soll es eine besondere Form der Bestrafung darstellen, weil Hitlers Taten so monströs sind, dass sie mit herkömmlichen Methoden – ob rechtsstaatlich oder diktatorisch – überhaupt nicht gesühnt werden können. Dafür spricht die von mir eingangs erwähnte, von der Stimme aus dem Off in den Raum gestellte Frage, ob die Gesetze gegenüber millionenfach verübtem Mord ausreichen, Gerechtigkeit zu üben.

Ab hier wieder spoilerfrei

Die Schwarz-Weiß-Produktion mag in den 1970er-Jahren auch im Fernsehen der Bundesrepublik oder der DDR gelaufen sein, womöglich sogar im DDR-Kino. Bemerkenswert, dass ein derartiger SF-Thriller aus der sozialistischen Tschechoslowakei es 2017 in Deutschland auf DVD geschafft hat. Wer hat den Film wohl noch in Erinnerung? Oder überhaupt je von ihm gehört? Ebenso bemerkenswert, dass ein Film, der derart differenziert Faschismus und Antifaschismus thematisiert, seinerzeit hinter dem Eisernen Vorhang überhaupt entstehen konnte. Aber vielleicht protestiert jetzt jemand und wirft mir Unkenntnis der tschechoslowakischen Filmlandschaft vor. Ich bekenne: Der Vorwurf wäre gerechtfertigt.

Regisseur Zbynek Brynych (1927–1995) hat während seiner Laufbahn auch fürs deutsche Fernsehen gearbeitet, schon 1969 und 1970 beispielsweise vier Folgen der Krimiserie „Der Kommissar“ inszeniert. Auch Episoden von „Derrick“, „Der Alte“ und „Polizeiinspektion 1“ finden sich in seiner Filmografie. Mit „Als Hitler den Krieg überlebte“ hat er einen überaus interessanten Science-Fiction-Film gedreht, der als Drama und Thriller gleichermaßen gesehen werden kann. Ein kaum bekanntes, außergewöhnliches Werk, das zum Nachdenken anregt.

Veröffentlichung: 8. Dezember 2017 als DVD

Länge: 86 Min.
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch, Tschechisch/Deutsch
Untertitel: keine
Originaltitel: Já, spravedlnost
Alternativtitel: Ich, die Gerechtigkeit
Internationaler Titel: I, Justice
CSSR 1968
Regie: Zbynek Brynych
Drehbuch: Zbynek Brynych
Besetzung: Karel Höger, Angelica Domröse, Jirí Vrstála, Fritz Diez, Jindrich Narenta, Karel Charvat, Otto Sevcik, Jindrich Blazicek, Karel Peyr, Rudolf Macharovsky, Oldrich Stodola
Zusatzmaterial: Intro (3:12), Bilderschau, Trailershow, Wendecover
Label: Ostalgica
Vertrieb: Media Target Distribution GmbH

Copyright 2020 by Volker Schönenberger
Szenenfotos: © 2017 Ostalgica

Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod – Der Privat-Genozid von Leopold II. (Filmrezension)

White King, Red Rubber, Black Death

Diesmal rezensiert Volker Schönenberger von unserem Partner-Blog „Die Nacht der lebenden Texte“ hier eine Doku über das Wüten eines westeuropäischen Monarchen in Zentralafrika

Historien-Doku // Wer hat je den Begriff Kongogräuel vernommen? Ein Geheimnis sind die Missetaten des belgischen Königs Leopold II. (1835–1909) in seinem zynisch Kongo-Freistaat benannten Eigentum in Zentralafrika nicht. Aber ich bin kürzlich nur zufällig darauf gestoßen. Die Geschichte des Kolonialismus ist an Gräueln ohnehin nicht arm, aber das Wüten von Leopold II. ist schon ein besonderes Kapitel.

Tribunal gegen Leopold II.

Der britische (?) Regisseur Peter Bate hat die blutige Geschichte dieser belgischen Kolonie 2003 in seinem Dokumentarfilm „Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod“ festgehalten. Er verwendete dafür Archivaufnahmen in Form von Fotos und Bewegtbildern, führte Interviews mit Historikern und stellte Szenen nach. Heraus kam ein beklemmendes Werk, das uns auf nachhaltige Weise das Wüten der Weißen in Afrika in Erinnerung ruft. Zu diesem Zweck inszenierte Bate ohne jede Effekthascherei in zurückhaltenden Bildern ein Tribunal gegen Leopold II. inklusive Zeugenaussagen. In Wirklichkeit hat es einen solchen Prozess nie gegeben.

Der belgische König Leopold II. (Foto gemeinfrei, Fotograf unbekannt)

Leopold II. folgte 1865 seinem verstorbenen Vater auf den belgischen Thron. Leopold I. (1790–1865) war 1831 nach der Unabhängigkeit des Landes von den Niederlanden zum ersten belgischen König gekrönt worden. Als Monarch konnte Leopold II. seine kolonialistischen Ideen für Belgien nicht in die Tat umsetzen, zumal viele Weltregionen bereits aufgeteilt waren. Dank üppigen Vermögens war er aber in der Lage, dies als Privatmann zu tun. 1876 gründete er das Komitee zur Erforschung des oberen Kongo, das nach außen hin wissenschaftliche Forschung und humanitäre Missionen unterstützen sollte, dem König aber den Weg zu umfangreicher Landnahme ebnete. Als seine Speerspitze fungierte der bekannte Afrikaforscher Henry Morton Stanley (1841–1904), dessen Expeditionen er über das Komitee für fünf Jahre finanzierte. Der drang auf rücksichtslose Weise ins Innere Afrikas vor und ließ von zahlreichen Stammeshäuptlingen deren Land auf Leopold II. umschreiben. Nebenbei gründete er zu Ehren seines Finanziers die Stadt Leopoldville, das heutige Kinshasa, Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo.

Der belgische König als Großgrundbesitzer in Afrika

Die Kongokonferenz in Berlin regelte 1885 den Freihandel in Afrika und zementierte die Ansprüche des belgischen Königs: Die Association Internationale du Congo (AIC, Internationale Kongo-Gesellschaft, Nachfolge-Organisation des oben erwähnten Komitees) wurde als Eigentümerin des Gebiets bestätigt, und da Leopold II. mittlerweile der einzige Anteilseigner war, gehörte nun ihm das gesamte Gebiet: der Kongo-Freistaat mit von ihm erlassener Verfassung, eigener Armee (der bis 1960 existierenden Force Publique) und von ihm eingesetzter Regierung, die einzig ihm verantwortlich war – ein Paradebeispiel für absolutistische Herrschaft. Peter Bates Doku zufolge war der belgische König somit Eigentümer über eine Million Quadratmeilen zentralafrikanischen Bodens, er herrschte über 20 Millionen Menschen.

Elfenbein und Kautschuk

Was ich hier tue, geschieht aus Christenpflicht gegenüber den armen Afrikanern, und ich will von all dem Geld, das ich ausgegeben habe, keinen einzigen Franc zurück. So zitiert „Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod“ Leopold II. Kann sich jemand mehr in die Taschen lügen, die er sich zuvor rücksichtslos und grausam vollgestopft hat? In der Tat steckte der König viel Geld in die Erschließung des Gebiets. Diese Investition diente jedoch in erster Linie der Ausbeutung. Wichtigster Rohstoff noch vor dem ebenfalls begehrten Elfenbein war Naturkautschuk, das per Vulkanisation zu Gummi wurde und so verarbeitet für die Industrie der Kolonialstaaten einen wichtigen Werkstoff darstellte.

Völkermord an zehn Millionen Kongolesen

Zur systematischen Ausbeutung des Landes wurde ein System der Zwangsarbeit eingerichtet, dem von 1888 bis 1980 bis zu zehn Millionen Kongolesen zum Opfer fielen, mithin die Hälfte der einheimischen Bevölkerung. So wurden nicht nur Befehlsverweigerung und Widerstand hart bestraft, sondern auch nicht erreichte Mengenvorgaben bei der Kautschukgewinnung. Das übernahmen angeworbene Söldner und die oben erwähnte Force Publique, deren 19.000 afrikanische Soldaten von europäischen Offizieren angeführt wurden. Um ihre Arbeiter zum Erreichen von Lieferquoten und -fristen zu bewegen, nahmen die Aufpasser deren Ehefrauen als Geiseln, die ermordet wurden, wenn die Männer verspätet oder mit zu wenig Ertrag aus dem Dschungel zurückkehrten. Prügelstrafe, Auspeitschungen mit der aus Nilpferdhaut hergestellten Chicotte, Vergewaltigungen, Verstümmelungen, Mord und Massenmord (wenn sich etwa ein gesamtes Dorf unkooperativ zeigte) waren gängige Mittel.

Ein Soldat der Force Publique züchtigt einen Mann mit einer Peitsche aus Nilpferdhaut (Foto gemeinfrei, Fotograf unbekannt)

Besonders beliebt und auch in „Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod“ thematisiert: das Abhacken von Händen. So mussten die afrikanischen Soldaten der Force Publique über jede verschossene Gewehrpatrone genau Rechenschaft ablegen, indem sie die rechte Hand des oder der Erschossenen vorlegten. Diese brutale Amputation erstreckte sich selbstverständlich nicht nur auf Leichen. Und weil ein Arbeiter mit nur einer Hand natürlich nutzlos war, hackte man einem seiner Kinder die Hand ab. Diese grausame Praxis wurde nicht zuletzt durch das Foto „ Nsala of Wala in the Nsongo District (Abir Concession)“ in Europa bekannt, zu deutsch: „Nsala aus Wala im Nsongo-Distrikt (Konzessionsgebiet Abir)“. Es zeigt einen Mann namens Nsala, der auf die abgehackte Hand und den abgehackten Fuß seiner etwa fünfjährigen Tochter Boali blickt. Die Kleine war zuvor erschossen, Teile von ihr sind womöglich auch verspeist worden. Das Bild hatte die englische Missionarin Alice Seeley Harris (1870–1970) am 14. Mai 1904 geknipst.

Früher Menschenrechtler: Edmund Morel

Dass die Kongogräuel in Europa Aufmerksamkeit erhielten, lag in erster Linie an dem britischen Journalisten Edmund Dene Morel (1873–1924), dem Peter Bate in seiner Doku breiten Raum gewährt. Morel nahm als junger Mann eine Beschäftigung bei der britischen Reederei Elder Dempster an, die das Monopol auf den Transport der Handelsgüter aus dem Kongo-Freistaat besaß. Morel bemerkte, dass die Schiffe, die mit Kautschuk beladen im Hafen von Antwerpen eintrafen, diesen mit Waffen und Munition beladen wieder verließen. Weitere Nachforschungen ergaben ein Bild von Zwangsarbeit und Sklaverei. Fortan schrieb sich Morel den Kampf dagegen auf die Fahnen; er gründete zu diesem Zweck die Congo Reform Association, die als eine der ersten Menschenrechtsorganisationen gesehen werden kann, und wurde als Publizist aktiv. So war er es auch, der das erwähnte Foto von Alice Seeley Harris veröffentlichte.

„Nsala of Wala in the Nsongo District (Abir Concession)“ (Foto gemeinfrei, Fotografin: Alice Seeley Harris)

Der öffentliche und internationale Druck auf Leopold II. wuchs durch Edmund Dene Morels leidenschaftlichen Einsatz enorm, was den König 1908 zwang, den Kongo-Freistaat an den belgischen Staat zu verkaufen. So wurde daraus bis zur Unabhängigkeit 1960 eine herkömmliche Kolonie: Belgisch-Kongo. Aufgrund der ans Tageslicht gekommenen Machenschaften im Kongo-Freistaat war Leopold II. bei anderen europäischen Herrschaftshäusern nicht mehr unbedingt gern gesehener Gast. Er starb am 17. Dezember 1909, ohne je für die Kongogräuel zur Rechenschaft gezogen worden zu sein.

Die belgische Königsfamilie drückt ihr Bedauern aus

Die belgische Königsfamilie schreibt auf ihrer offiziellen Internetpräsenz: Aufgrund der durch die Europäer in Afrika begangenen Exzesse wird der Ruf von Leopold sowie der seines überseeischen Werkes in Frage gestellt. Etwas euphemistisch formuliert, aber wer gibt schon gern zu, einen für Massenmord bis hin zum Genozid verantwortlichen Vorfahr in der Familie zu haben? Erlaubt sei allerdings die Frage: Hat das belgische Königshaus der kongolesischen Bevölkerung einen nennenswerten Anteil des Privatvermögens der Familie überlassen, um wenigstens ein Mindestmaß an Entschädigung zu leisten? Jedenfalls ist das Thema dank #BlackLivesMatter in Belgien wieder aktuell geworden, jüngst entbrannte eine heftige Debatte um Standbilder Leopolds II. und die koloniale Vergangenheit. Erstmals drückte der belgische König Philippe am 30. Juni 2020, dem 60. Jahrestag der Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Kongo, in einem Schreiben an den kongolesischen Staatspräsidenten Félix Tshisekedi sein tiefstes Bedauern über die Verletzungen der Vergangenheit aus. Ich bin gespannt, wie sich der Diskurs dort entwickelt.

Verstümmelte Kongolesen, Anfang des 20. Jahrhunderts (Fotos gemeinfrei, Fotografinnen/Fotografen: Alice Harris, Daniel Danielson u. a.)

Die internationale Koproduktion „Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod“ wirft einen Blick zurück auf unfassbares Unrecht. Das Leid, das die Kolonialmächte ohne jeden Skrupel über die Menschen gebracht haben, lässt sich nicht erspüren, aber mit Dokumentationen wie dieser in der Erinnerung halten. Jede Nation, die als Kolonialmacht in Erscheinung getreten ist, hat großes Unrecht begangen. König Leopold II. war ein Despot, der sich besonders übel hervorgetan hat, auch ohne sich persönlich die Hände blutig zu beflecken.

In den USA auch auf DVD erschienen

„Weißer König, roter Kautschuk, schwarzer Tod“ ist nur in den USA auf DVD veröffentlicht worden. Die Doku kann in englischer Sprache gratis und legal im Internet Archive angeschaut und heruntergeladen werden. In Deutschland hat der Fernsehsender Arte sie seinerzeit mit deutschem Sprecher ausgestrahlt, diese Version findet sich noch bei YouTube, wenn auch vermutlich nicht autorisiert, weshalb ich auf das Verlinken verzichte.

Buch und Doku „Schatten über dem Kongo“

Ein ausführlicher Bericht über die Geschehnisse im Kongo-Freistaat findet sich bei „all that’s interesting“. Wer das gedruckte Wort einem Online-Text vorzieht, kann auf das Sachbuch „King Leopold’s Ghost – A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa“ zugreifen, das der US-Publizist Adam Hochschild 1998 veröffentlichte. Es ist zwei Jahre später unter dem Titel „Schatten über dem Kongo – Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechens“ auch in Deutschland erschienen. 2006 entstand eine gleichnamige Doku zu Hochschilds Buch. Sie ist 2014 als DVD-Beilage der Zeitschrift „Geo Epoche – Afrika“ in Deutschland erschienen und kann ebenfalls bei YouTube gefunden werden.

Joseph Conrads „Herz der Finsternis“

Einen literarischen Kommentar zur Ausbeutung der Menschen im Kongo-Freistaat gab 1899 Joseph Conrad mit seinem Roman „Heart of Darkness“ („Herz der Finsternis“) ab. Francis Ford Coppola nahm sich 1979 ganz viele Freiheiten, verlegte die Handlung des Buchs in den Vietnamkrieg und schrieb mit „Apocalypse Now“ Filmgeschichte.

Veröffentlichung (USA): 28. Februar 2006 als DVD

Länge: 84 Min.
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Niederländisch, Englisch, Französisch
Untertitel: Englisch
Originaltitel: White King, Red Rubber, Black Death
Französischsprachiger Titel: Le Roi blanc, le caoutchouc rouge, la mort noire
BEL/AUS/KAN/DK/FIN/F/D/NL/GB 2003
Regie: Peter Bate
Drehbuch: Peter Bate
Mitwirkende: Elie Lison, Roger May, Steve Driesen, Tshilombo Imhotep, Annette Kelly, Dirk Beirens, Nick Fraser (Erzähler), Guido Grysseels, Elikia M’Bokolo, Maria Misra, Daniel Vangroenweghe
Zusatzmaterial: keine Angabe
Label/Vertrieb: Art Mattan

Copyright 2020 by Volker Schönenberger
Packshot: © 2006 Art Mattan

Flug der Schmetterlinge – Die lange Reise der Supergeneration (Filmrezension)

Flight of the Butterflies

Diesmal hat uns Volker Schönenberger die Rezension einer sehenswerten Natur-Doku zur Verfügung gestellt – dafür herzlichen Dank an den Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“.

Natur-Doku // Dem kanadische Zoologen und Schmetterlingskundler Frederick Urquhart (1911–2003) gelang es in den 1970er-Jahen, bahnbrechende Erkenntnisse über den Monarchfalter zu erlangen, die geradezu als Naturwunder angesehen werden können. Bei diesen auch Amerikanischer Monarch genannnten Schmetterlingen handelt es sich um sogenannte Wanderfalter, also Tiere, die gezielt in Schwärmen große Strecken zurücklegen.

Die Raupe des Monarchfalters

Das Beeindruckende an den Monarchfaltern, deren Lebenserwartung vier bis sechs Wochen beträgt: Ihr Wanderungszyklus dauert mehrere Generationen. Drei Generationen sind erforderlich, bis die Tiere in Nordamerika ihren nördlichsten Lebensraum im Norden der USA und Süden Kanadas erreicht haben. Der schlüpft eine Art „Supergeneration“ – besonders kräftige Falter mit längerer Lebenserwartung, die in der Lage sind, den Rückweg anzutreten und am Ziel anzukommen: mexikanische Gebirgstäler, die ihre Vorfahren einige Generationen zuvor verlassen haben. Sie erreichen also eine alte Heimat, die sie überhaupt nicht kennen! Auf ihrem Zug ins Winterquartier legen die Falter durchschnittlich 75 Kilometer am Tag und insgesamt eine Strecke von beinahe 4.000 Kilometern zurück. Dabei orientieren sie sich an der Sonne und dem Magnetfeld der Erde.

Im Kokon

Drei Generationen wandern nach Norden, eine Generation wandert nach Süden – ob es dieses Phänomen bei anderen Tieren gibt? Dem Natur-Dokumentarfilmer Mike Slee („Bugs!“) gelangen wunderbare Aufnahmen dieser so zerbrechlich wirkenden Geschöpfe. Um den gesamten Wanderzyklus abbilden zu können, drehte er über den Zeitraum eines Jahres bis März 2012. Die Bilder der Monarchfalter werden eingerahmt von Spielszenen, die eine kurze Chronik von Fred Urquharts Schmetterlingsforschung zeigen – von seiner Kindheit bis ins hohe Alter. Urquharts Faszination für diese winzigen „Wanderchampions“ überträgt sich aufs Publikum.

In ganzer Pracht

„Flug der Schmetterlinge“ wurde 2013 von der Giant Screen Cinema Association mehrfach prämiert, darunter mit dem Preis für den besten Kurzfilm, den besten Film für lebenslanges Lernen und die beste Kamera. Weitere Preise folgten. Nach Sichtung von „Flug der Schmetterlinge“ sieht man die Monarchfalter mit anderen Augen.

Es wird ausgeschwärmt

Veröffentlichung: 11. Dezember 2015 als Blu-ray 3D (inkl. Blu-ray), Blu-ray und DVD

Länge: 45 Min. (Blu-ray), 43 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK freigegeben ohne Altersbeschränkung
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Flight of the Butterflies
GB/MEX/KAN 2012
Regie: Mike Slee
Drehbuch: Wendy MacKeigan, Mike Slee
Besetzung: Gordon Pinsent, Patricia Phillips, Shaun Benson, Stephen Bogaert, Megan Follows
Zusatzmaterial: deutscher Trailer, Originaltrailer, Behind the Scenes, Trailershow, Vertikalschuber, Wendecover
Label/Vertrieb: Ascot Elite Home Entertainment

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2015 Ascot Elite Home Entertainment

Diva – Der Postbote und die Star-Sopranistin (Filmrezension)

Diva

Erneut eine Rezension eines Autors unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“ – herzlichen Dank an den Blogger Volker Schönenberger persönlich.

Thriller // Der junge Pariser Postbote Jules (Frédéric Andréi) stellt des Abends sein Mofa vor der Opéra Garnier ab und betritt das Opernhaus. Auf dem Programm: ein ausverkauftes Konzert von Cynthia Hawkins (Wilhelmina Fernandez) – Jules verehrt die berühmte Sopranistin. Er nimmt im Parkett Platz und harrt des Auftritts. Sie beginnt ihre Darbietung mit der Arie „Ebben? Ne andrò lontana“ aus Alfredo Catalanis Oper „La Wally“. Niemand bemerkt, wie Jules heimlich sein eingeschmuggeltes Aufnahmegerät einschaltet und das Konzert mitschneidet. Wirklich niemand? Hinter ihm sitzen zwei sonnenbebrillte Taiwanesen (Jim Adhi Limas, zweiter Darsteller nicht bekannt).

Gefeierte Opern-Diva: Cynthia Hawkins gibt ein Gastspiel in Paris

Nach dem Konzert gelingt es Jules sogar, sich sein Programmheft von der Diva signieren zu lassen. In all dem Trubel nimmt er sich noch ein besonderes Souvenir mit: das Kleid, das Hawkins bei ihrem Auftritt getragen hat. Sein größter Schatz ist aber natürlich die Tonaufnahme, denn die Sopranistin hat sich bisher jedem Versuch verweigert, ein Album aufzunehmen oder überhaupt irgendeinen Mitschnitt ihres Gesangs anfertigen zu lassen.

Postbote Jules stößt mit einer Flüchtenden zusammen

Tags darauf trifft eine gehetzt wirkende Frau (Chantal Deruaz) per Bahn in Paris ein. Die Barfüßige wird bereits von der Kriminalbeamtin Paula (Anny Romand) und ihrem Informanten Krantz (Jean-Jacques Moreau) erwartet, doch auch die beiden Gangster Cure (Dominique Pinon) und der Antillaner (Gérard Darmon) sind hinter der Frau her. Kurz darauf ist die Frau tot, doch vorher hat sie eine Audiokassette mit einer belastenden Aussage in der Seitentasche von Jules’ Mofa verschwinden lassen. Nun ist der junge Postbote im Besitz von zwei brisanten Aufnahmen und wird bald von den Gangstern, den Taiwanesen und dem Polizeichef Saporta (Jacques Fabbri) gejagt. Die unbekümmerte junge Vietnamesin Alba (Thuy An Luu) und ihr älterer Freund Gorodish (Richard Bohringer) erweisen sich als unverhoffte Unterstützung.

„Diva“-Kult in den 80er-Jahren

„Diva“ erspielte sich seinerzeit einen Status als Kultfilm. In manchen Kinos lief er jahrelang, galt in puncto Kinovorführungen als Rekordfilm, wenn ich mich recht entsinne. Ich schaute den Thriller erstmals irgendwann Mitte der 80er in einer Spätvorstellung im „Broadway“ in der Hamburger Innenstadt, wo er im fünften oder sechsten Jahr lief, auch hier: wenn mich die Erinnerung nicht trügt. Das Kino war allerdings nur mit einer Handvoll Personen gefüllt (ich war dort mit einer Mitschülerin, in die ich damals verknallt war – vergeblich, aber über den Liebeskummer kam ich hinweg). Die fast schon surreal anmutende Bilder- und Farbenpracht zogen mich jedenfalls in ihren Bann, und es ist in der Tat die visuelle Kraft, die den größten Reiz von „Diva“ ausmacht. Gleichwohl ist auch die Thriller-Story gar nicht schlecht, der Film ist keineswegs nur „Mehr Schein als Sein“, wie es einige zeitgenössische Rezensenten wahrgenommen haben wollen.

Die Gangster schlagen zu …

Gleichwohl ist das Setdesign atemraubend. Das beginnt bei Jules’ skurriler Bude mit Airbrush an den Wänden und am Boden im oberen Stockwerk eines maroden Lager- oder Parkhauses, in dessen Erdgeschoss schrottreife Luxusautos vor sich hin rosten; es endet nicht bei Gorodishs weitläufigem Loft mit Badewanne mitten im Raum, in welchem Alba mit Rollerskates herumdüst. Selbstverständlich ist auch Paris einige faszinierende Impressionen wert.

… und nehmen sich auch Jules vor

Mir hat aber auch bei meiner erneuten Sichtung die Verflechtung der beiden Kriminalhandlungen ausgesprochen gut gefallen. Jules’ Raubkopie führt zu Erpressung, und die andere Tonaufnahme ist noch härteres Kaliber. Die Fäden laufen bei dem Postboten zusammen, um ihn schart sich das durchaus stattliche Ensemble. Wie kann sich der junge Mann dort herauswinden und gleichzeitig die Gunst von Cynthia Hawkins gewinnen? Das hat Thriller-poetische Qualitäten. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass sich Jean-Jacques Beineix („Betty Blue“) in seinem Langfilm-Regiedebüt bisweilen von der opulenten Bilderflut seines Kameramanns Philippe Rousselot hinreißen ließ, im Visuellen zu schwelgen. „Diva“ wirkt dabei detailverliebt, nahezu jede Einstellung macht einen penibel durchdachten Eindruck, auch und besonders in der Interaktion der Figuren. Ein Blick hier, eine Berührung oder Bewegung dort. Faszinierend und gleichzeitig fesselnd, ein Thriller bleibt es zu jeder Zeit. Sogar ein paar urbane Verfolgungsjagden bekommen wir zu sehen.

Kamera vom späteren Oscar-Preisträger

Rousselot ließ sich ab Mitte der 1980er-Jahre verstärkt international und auch in Hollywood buchen. Nach zwei Oscar-Nominierungen – für „Hoffnung und Ruhm“ (1987) und „Henry & June“ (1990) – gewann er den Academy Award schließlich mit seiner dritten für die Kamera von Robert Redfords „Aus der Mitte entspringt ein Fluss“ (1992). 2013 erhielt er in Cannes für sein Wirken den in jenem Jahr erstmals verliehenen Pierre Angénieux ExcelLens in Cinematography. Auch für „Diva“ wurde Rousselot geehrt: Der Kameramann erhielt 1982 den französischen Filmpreis César, mit dem auch die Musik und der Ton des Thrillers prämiert wurden. Regisseur Beineix gewann den César für das beste Erstlingswerk.

Was führen die Taiwanesen im Schilde?

Für die amerikanische Sopranistin Wilhelmina Fernandez blieb es trotz ansprechender Leistung ihr einziger Spielfilm. Sie singt im Film auch selbst – außer der eingangs erwähnten Arie auch das „Ave Maria“ von Charles Gounod. Heimlicher Held von „Diva“ ist meines Erachtens aber Gorodish, von Richard Bohringer („Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“) mit Savoir-vivre und unnachahmlicher Coolness gespielt.

Meine Erinnerung nach all den Jahren hat mich nicht getrogen: „Diva“ ist ein Gesamtkunstwerk.

Ein seltsames Paar: Gorodish und Alba

Veröffentlichung: 2. April 2020 und 23. Februar 2017 als Blu-ray und DVD

Länge: 113 Min. (Blu-ray), 117 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 12
Sprachfassungen: Deutsch, Französisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Diva
F 1981
Regie: Jean-Jacques Beineix
Drehbuch: Jean-Jacques Beineix, Jean Van Hamme, nach einem Roman von Daniel Odier alias Delacorta
Besetzung: Frédéric Andréi, Wilhelmenia Fernandez, Richard Bohringer, Thuy an Luu, Gérard Darmon, Dominique Pinon, Jacques Fabbri, Chantal Deruaz, Roland Bertin, Anny Romand, Jean-Jacques Moreau, Patrick Floersheim, Raymond Aquilon, Jim Adhi Limas
Zusatzmaterial: Interview mit Jean-Jacques Beineix, Wendecover
Label/Vertrieb: Studiocanal Home Entertainment

Copyright 2020 by Volker Schönenberger

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2020 Studiocanal Home Entertainment

Beauty and the Boss – Wenn der Chef seine Meisterin findet (Filmrezension)

Beauty and the Boss

Einmal mehr eine Rezension eines Autors unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“ – herzlichen Dank an Tonio Klein, der auch für die Print-Publikation „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ schreibt.

Komödie // Warren William war zwar für seine Rollen als übergriffiger (mal böser, mal dennoch liebenswerter) Chef in Pre-Code-Filmen bekannt, konnte aber auch mal etwas ganz anderes spielen. Zum Beispiel den guten, zurückhaltenden und nicht mal charmant-verschlagenen Anwalt in „Three on a Match“. Oder eine äußerst interessante Variation seiner Typenbesetzung in „Beauty and the Boss“. In „Employees’ Entrance“ (1933) war der Weg zu Harvey Weinstein nicht weit. „Beauty and the Boss“ ist nicht minder interessant, denn da ist er als Wiener Bankdirektor Baron Josef von Ullrich weiblichen Reizen zwar nicht abgeneigt, wird aber seine Meisterin finden. Diese heißt Susie Sachs (Marian March mit entfernten Anklängen an die ganz junge Bette Davis). Manchmal „Säääx“, oft aber, nun ja, „Sex“ ausgesprochen. Zufall? Wohl kaum! Wobei es nicht nur um Sex geht, sondern vor allem um Liebe, oder: um die Frage, ob das Liebesspiel, welches der Baron äußerst gern betreibt, wirklich nur ein Spiel ist. Susie meint es ernst! Und hat die Hosen an. Wie übrigens alle Frauen in dieser frivolen und doch lebensklugen Komödie.

Pre Code und Warner: ungeschminkt und effizient

Falls es dem geneigten Leser unbekannt sein sollte: „Pre-Code“ nennt man die Phase in der Geschichte Hollywoods, in der aus Angst vor drohenden staatlichen Repressalien die Selbstzensurbestimmungen (der sogenannte Production Code, auch als Hays Code bekannt) der Traumfabrik zwar schon beschlossen waren, aber noch nicht durchgesetzt wurden. Von 1930 bis zur Verbindlichkeit der Vorgaben Mitte 1934 tobte sich die Traumfabrik noch mal aus, als gäbe es kein Morgen. Natürlich sind nicht alle Filme dieser Zeit zwanghaft „versaut“, aber die besten erreichen einen knochenehrlichen Blick auf die ältesten Gefühle der Welt.

So auch dieser, der zudem ein typisches Beispiel dafür ist, wie Warner Brothers seinerzeit funktionierte. Eine A-Film-Abteilung gab es faktisch nicht, die Brüder ließen kurze Programmfüller (Filme als Teil eines Doppelprogramms) äußerst kostengünstig herstellen. Und das machten sie oft so gut, dass auch Filme ohne dezidiert künstlerischen Anspruch zum einen sehr effizient und unterhaltsam sind, zum anderen manches Erhellende über ihre Zeit und Produktionsmethoden erkennen lassen. Beispielsweise, wie man mit einfachen Mitteln „production values“ suggeriert, die der Film nicht hat. Da kann es anhand von Schrifttafeln, Footage-Postkartenansichten und rückprojizierten wie gemalten Hintergründen durch die ganze Welt gehen, natürlich im Studio. Wien? Gemalt. Wobei man rätseln kann, ob die Hintergründe besonders expressionistisch-avantgardistisch sind oder schlicht dem Budget geschuldet. Auch aus der Not kann Kreativität entstehen. Ein Flug nach Paris? Der Propeller dreht sich vor einem Allerweltshintergrund (ein Hangar, eine Miniatur?), und Aufnahmen vom Eiffelturm und vom Triumphbogen finden sich als Montagenmaterial in den Archiven. Herrlich! 65 Minuten allerbeste Unterhaltung.

Ein Geschäftsmann und das älteste Geschäft der Welt

Und durchaus hintersinnige wie selbst für 1932 gewagte Unterhaltung. Baron von Ullrich hat immerhin so viel Ehre im Sinn und Beherrschung in der Hose, dass er mit seinen Sekretärinnen nichts anfängt. Nein, er entlässt sie erst … Wobei er es sich leisten kann, ihnen noch monatelang Gehalt zu zahlen. Weniger verklausuliert gab es einen Hurenlohn selten. Wobei es die Damen sind, die den Mann verführen, das merkt er nur nicht. „Beauty and the Boss“ beginnt mit einem typischen „Frollein, zum Diktat“, und Stenotypistin Ollie Frey (Mary Doran) ist willig, wenn auch unwillig, die Arbeit zu leisten. Sie schlägt die Beine übereinander, sodass der Rock die Knie-Ansicht freigibt. Er: „Yes, I see it. But I’ve seen better.“ Sie kokett geheuchelt: „I didn’t think you could see my, äh …“. Ollie wird sich bei denjenigen Damen einreihen, die von von Ullrich nur das eine wollen. Und zwar nicht, weil sie ihm verfallen sind. Sondern weil sie Spaß dran haben, den Mann scharf zu machen und sich dann mit ihm zu vergnügen.

Auf einer Geschäftsreise in Paris dreht der Film die Schraube noch einmal gewaltig an. Die Liste der Damen, die von Ullrich dort aus nichtgeschäftlichen Anlässen, ähem, sehen wollen, ist so absurd lang wie Leporellos Leporello, in dem er die Betthäschen Don Giovannis vermerkt hat. Und am Telefon müssen diverse heiße Feger mehrmals, manchmal sogar zugleich, abgewimmelt werden, die sogar nackt in der Badewanne nach ihrem, pardon, Stecher rufen. Auch 1932 gab es keine „full frontal nudity“, aber eine sehr effektive Suggestion in den Badewannenshots. Mädels im Unterrock und mit Strümpfen waren sowieso Standard.

Liebe nicht als Geschäft: das hässliche Entlein …

Warum nun werden sie abgewimmelt? Auftritt Susie Sex, äh, Sachs, oder auch Miss Church Mouse. Als typisches „poor girl of the Great Depression“ (die es ja auch in Wien gab) wird die Figur äußerst interessant eingeführt. Sie drückt sich die Nase an einem Studiowiener Kaffeehaus platt, in dem ein reicher Mann üppig speist. Man hat sich nicht nur Mühe gegeben, den schönen Schwan als hässliches Entlein zu verpacken, man hat noch mehr getan. Dadurch, dass wir nur das ungeschminkte Gesicht oberhalb eines Vorhangs sehen, von einem Hut bedeckt, ist nicht einmal erkennbar, dass Susie bereits im fraulichen Alter ist. Das poor little girl wirkt tatsächlich noch wie ein girl im Sinne von Kind! Erst als wir die Person im Ganzen sehen: aha, eine Frau. Diese stürmt dann mit Chuzpe in das Büro von Ullrichs und ergattert die freie Sekretärinnenstelle. Dass sie den Portier als Tippgeber dafür hat, wann eine Stelle frei wird, lehrt uns, sie nicht zu unterschätzen. Zudem ist sie im Job spitze und garantiert nicht willig, den Geschäftsmann vom Geschäft abzubringen. Sie wird schnell von Ullrichs beste rechte Hand ever und wirbelt nicht nur sein Geschäftsleben durcheinander. Dabei liebt sie diesen Mann, sieht, dass er sich seinen Reichtum wirklich verdient hat und sogar noch viel mehr Potenzial hätte, wenn er sich nicht gelegentlich mit Frauengeschichten ablenken würde. Also wird sie es sein, die die erwähnte Damenriege abwimmelt und stattdessen lieber daran arbeitet, dass eine wichtige, in Paris abgeschlossene Fusion auf bestem Wege wächst, blüht und gedeiht. Einen vollen Terminkalender mit Geschäftsleuten und einflussreichen Politikern statt oh là là, Can Can und Séparées wird sie ihm bescheren – um lieber selbst einen draufzumachen.

… und der schöne Schwan

Es folgt natürlich die erwartete Schwan-Szene, aber sie kommt erfreulich spät und Susie wird auch dann nicht ihre Kirchenmaus-Tugenden verleugnen! Des Barons Firmenkumpel, mit denen sie ausgeht, sind harmlose und wirklich freundliche Gefährten. David Manners spielt einen von ihnen (wobei seine Figur zugleich von Ullrichs jüngerer Bruder ist), eigentlich der klassisch junge leading man, aber er wird nicht viel zu melden haben. Susie hat die Hauptrolle! Während im sehr bösen „The Match King“ (1932) die William-Figur andauernd nervige Frauen reinlegt, ist es hier Susie, die dies mit von Ullrichs Damenriege tut. Wobei der Film, was ich positiv werte, daraus nicht das große Drama macht. Ollie, die das wichtigste Opfer ist, nimmt’s als sportlichen Zickenkrieg und verklickert Susie einmal sogar in kameradschaftlicher Weise, wie man es mit kleinen Tricks anstelle, einen Mann in die Arme zu bekommen – und ins Bett, was natürlich nicht offen gesagt wird. Als Susie diese Tricks bei von Ullrich ausprobiert und er sofort darauf anspringt, ist sie mächtig enttäuscht und zeigt Größe: Ja, sie will ihn. Aber sie sagt auch: Wenn du mich haben willst, musst du mehr sein als ein allerweltstestoreongesteuerter Heini. „When I love a man, … he must be hungry and thirsty forever, since I came along. I, Susie Sachs. No other woman on earth must do. That’s the sort of love I want.”

Lust ist auch lustig

Das ist natürlich ein romantisches, vielleicht utopisches Ideal. Aber für den Film wie Susie spricht, dass sie kompromisslos ist und sich nicht mit weniger zufriedengibt. Äußerst vergnügliche Elemente wie ein von Begehren und Koketterie geprägtes „Fangenspielen“ als wilde Hatz im „top shot“ sowie herrlich schräge Nebenfiguren runden den Eindruck ab. Einer dieser großen kleinen Warner-Filme, zudem mit dem Jäger als Beute. Veröffentlicht ist der Film bis heute nicht in Deutschland, aber in den USA in der Warner Archive Collection. Dort wird übrigens nicht der Bankdirektor höchst charmant über den Tisch gezogen, sondern der Kunde: Das Cover ziert nicht die Hauptfigur, die Kirchenmaus, sondern die Dame, die nackt aus der Badewanne heraus nach von Ullrich telefoniert.

Veröffentlichung (USA): 22. April 2010 als DVD

Länge: ca. 65 Min.
Altersfreigabe: ungeprüft
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: keine
Originaltitel: Beauty and the Boss
USA 1932
Regie: Roy Del Ruth
Drehbuch: Joseph Jackson, nach einem Theaterstück von Ladislas Fodor
Besetzung: Marian Marsh, Warren William, Mary Doran, David Manners
Zusatzmaterial: keines
Label/Vertrieb: Warner Archive

Copyright 2020 by Tonio Klein

Filmplakat: Fair Use

Employees’ Entrance – #metoo im Pre-Code (Filmrezension)

Employees’ Entrance

Erneut eine Rezension eines Autors unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“ – herzlichen Dank an Tonio Klein, der auch für die Print-Publikation „35 Millimeter – Das Retro-Filmmagazin“ schreibt. Der Text enthält ein paar Spoiler.

Drama // Willkommen in der beinharten Geschäftswelt in Zeiten der Krise und in einem brettharten Pre-Code-Knaller, der sich selbst für damalige Verhältnisse weit aus dem Fenster lehnt und doch nicht voyeuristisch ausfällt, sondern knochenehrlich und erfrischend ungeschminkt. Dirty rotten scoundrel „King of Pre-Code“ Warren William („Beauty and the Boss“, 1932) gibt den rücksichtslosen Unternehmer Kurt Anderson, dem der Erfolg recht gibt. Weil dies vermutlich tatsächlich so ist, kann man den Film auch als Kapitalismuskritik lesen. Vielleicht gerade weil er sich der moralischen Bestrafung des Skrupellosen widersetzt. Und bei seinem Kampf schmeißt dieser nicht nur Leute raus (und einmal definitiv in den Ruin sowie einmal in den Freitod), sondern nimmt auch noch alles Weibliche mit, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Die von Loretta Young gespielte Arbeitslose Madeline Walters bekommt er vor den Kussmund und andeutungsweise schon zu Beginn in die Kiste, indem er ihre Not ausnutzt und ihr einen Job gibt. Später ist dann ziemlich deutlich, dass Anderson sie nach der Abblende, in der sie hinreißend schön und ziemlich besoffen in seinem Bett wie hingegossen liegt, „nimmt“.

Von Kurt Anderson zu Harvey Weinstein

Aber unserem Harvey Weinstein der Kaufhausbranche in der Depressionszeit wird es nicht an den Kragen gehen! Der aus heutiger Sicht vielleicht grenzwertige Plot ist gleichwohl zu genießen, verehrt er den Hauptcharakter doch nicht als tollen Hecht, sondern zeigt, dass gegen eine brutale Wirtschaftskrise nur ein noch brutalerer Manager hilft. Damit ist der Film genauso hässlich-zynisch wie vermutlich leider wahr, und er braucht den Vergleich mit so manchem Billy Wilder, wie zum Beispiel „Extrablatt“ (1974), sowie den vorherigen „Front Page“-Verfilmungen nicht zu scheuen. Eine hier nicht zu verratende Chance für die Liebe gibt es gleichwohl, aber auch so rotzfrech-erfrischende Figuren wie Polly Dale (Alice White). Sie wird von Anderson wie eine Prostituierte für das Stellen von Honigfallen bezahlt, wobei sie dessen Widersacher vielleicht mehr als nur umgarnt. White spielt diese Polly schon nach dem Zenit ihrer kurzen, aber heftigen Flapper-Karriere, und auch wenn sie diesmal vielleicht etwas überzieht, ist ihre Figur ein stimmiger Charakter, weiß diese doch genau, was sie tut, und dies macht sie gleichsam effektiv wie irritierend gern.

„Employees’ Entrance“ hat dann noch die Chuzpe, ein paar Anspielungen auf Homosexualität einzubauen. Ein findiger Verkäufer schlägt einmal vor, Damen- neben Herrenartikeln zu platzieren, da Damen für ihre Männer nicht nur Krawatten kauften, sondern auch andere (zum Teil recht intime) Dinge – und dass die Männer dann auch die Damen bei der Unterwäschewahl sehen, wird als willkommener (Verkaufs-)Appetizer angesehen. Ein brüskierter Kollege wird von Anderson nur gefragt: „Don’t you like women?“ Und auch Anderson selbst scheint gelegentlich an dem findigen Verkäufer Martin West (Wallace Ford), den er unter seine Fittiche nimmt, mehr als nur berufliches Interesse zu haben, wird insoweit sogar Konkurrent für Young, die Ford heimlich geheiratet hat – fortan hat er keine Zeit mehr für sie. So werden am Schluss auch nicht Kurt und Polly als seelenverwandte dirty rotten scoundrels zusammenkommen. Pre-Code, wie er sein muss, immer in die Vollen, doch nie selbstzweckhaft.

Der effektive Regie-Handwerker Roy Del Ruth

Dass die Machart nur im besten Sinne konventionell ist, muss man schlucken. Aber was heißt schon „nur“? Roy Del Ruth („Der kleine Gangsterkönig“, 1933) war seinerzeit ein vielbeschäftigter Warner-Auftragsregisseur. Es mag seine Gründe haben, dass er nicht so bekannt wurde wie die damaligen Kollegen Michael Curtiz und Mervyn LeRoy. Aber er liefert effektives Handwerk ab, mit schnörkellosem, hohem Tempo (etwa durch die damals üblichen und heute noch bei „Star Wars“ gebräuchlichen Überblendungen von allen und in alle möglichen Richtungen). Auch die bei hohem Kostendruck sehr effiziente Technik der Montagen funktioniert, in denen zum Beispiel zu Beginn sehr schnell, aber ohne neumodisches Schnittgewitter die Unternehmensgeschichte der vergangenen Jahrzehnte vorgestellt wird. Der übliche Blick auf Zeitungsschlagzeilen unterstreicht den Realismus. Und das Einstreuen von Footage gibt die effektive Illusion von Production Values (der wiederkehrende flucht-/vogelperspektivische Blick auf eine Fabrikationshalle kommt mir aus dem Autofabrik-Streifen „Unser Boss ist eine Lady“ (1933) merkwürdig bekannt vor, aber ich mag mich irren). Zudem gibt es zwar – wie seinerzeit oft – noch keinen durchkomponierten Soundtrack, aber musikalische Leitmotive, beispielsweise „I Found My Million Dollar Baby in a Five and Ten Cent Store“. Eine hübsche Umkehrung der Tatsache, dass hier alle in einem Million Dollar Store zu „billigen“ Personen zu werden drohen.

Fazit: Hard, fast and beautiful. In 75 Minuten Wahrheit, Unterhaltung, Gemeinheit, aber nie Nihilismus. Wem seinerzeitiger MGM-Edelkitsch auf den Zeiger geht, der greife zu diesem Film. Pre-Code vom Derbsten und zugleich Feinsten. Nun braucht’s nur noch eine deutsche Heimkino-Veröffentlichung. Im Zuge der #metoo-Debatte mag ein findiges Label hoffentlich mal auf „Employees’ Entrance“ stoßen.

Veröffentlichung (USA): 30. April 2013 als DVD (Bestandteil der Box „Forbidden Hollywood – Volume 7“)

Länge: 65 Min.
Altersfreigabe: FSK ungeprüft
Sprachfassungen: Englisch
Untertitel: keine Angabe
Originaltitel: Employees’ Entrance
USA 1933
Regie: Roy Del Ruth
Drehbuch: Robert Presnell Sr., nach einem Theaterstück von David Boehm
Besetzung: Warren William, Loretta Young, Wallace Ford, Alice White, Hale Hamilton, Albert Gran, Marjorie Gateson, Ruth Donnelly, Frank Reicher, Charles Sellon
Zusatzmaterial: keine Angabe
Label/Vertrieb: Warner Archive

Copyright 2020 by Tonio Klein
Filmplakat: Fair Use

Redacted – Die Verdammten des Bilderkriegs (Filmrezension)

Redacted

Nach einer Pause mal wieder eine Rezension eines Autors unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“ – herzlichen Dank an Tonio Klein. Der Text enthält ein paar Spoiler.

Kriegsdrama // Ein Herr schickte seinen Diener in Bagdad auf den Markt. Dort erschien ihm der Tod; er kehrte angsterfüllt zu seinem Herrn zurück und bat um ein Pferd, um nach Samarra zu reiten; dort würde ihn der Tod nicht finden. So geschah es. Der Herr ging selbst zum Markt, erkannte dort den Tod und warf ihm vor, wie er denn seinen Diener so erschrecken könne. Darauf entgegnete der Tod: „Aber ich wollte ihn gar nicht erschrecken. Ich war nur erstaunt, ihn in Bagdad zu sehen. Ich hatte nämlich heute Abend mit ihm eine Verabredung in Samarra.“

Wache schieben am Kontrollpunkt

Was sagt uns diese Geschichte? Sie wird vorgetragen im Kreise von US-Soldaten in – Samarra, Irak. Am Ende wird einer von ihnen ziemlich deutlich aussprechen, es gebe keinen guten Grund, aus dem die USA im Irak einen Krieg führten. Alles also ein Missverständnis („der Irak hat Massenvernichtungswaffen“), das aber doch den Hintersinn hat, dem tödlichen Schicksal nicht zu entgehen? „Mit jedem Tag kommen wir der Verabredung näher“, wird der Soldat sagen, der täglich im Buch „Verabredung in Samarra“ liest (Auszug siehe oben). Die Terroristen von 9/11 hatten die USA erschreckt, um sie dann in den Irak zu locken und dort zu erwarten. Möglicherweise. Die Parabel vom Tod und dem Diener eines Herren (Soldaten als Diener ihres Landes vielleicht) lädt zu vielfältigen Interpretationen und Spekulationen ein. Und das ist schon einmal gut, in einem Film des großen Brian De Palma, der zumindest teilweise extrem ungewöhnlich und interessant ist.

Vier GIs im Irakkrieg

Von den GIs rücken vier in den Vordergrund. Angel Salazar (Izzy Diaz) ist der Chronist, der sämtliches Geschehen mit der Videokamera dokumentiert; er will sich damit an der Filmhochschule bewerben. Angel Salazar – Engel! Tod! Wohl kaum ein zufälliger Name. McCoy (Rob Devaney) ist der etwas zurückhaltendere Typ, an Gerechtigkeit interessiert, ein Anwalt der Schwachen, darum heißt er mit Vornamen tatsächlich Lawyer. B. B. Rush (Daniel Stewart Sherman) und Reno Flake (Patrick Carroll) sind die ungehobelten (Front-)Schweine. Reno ist nach einem Ort des Glücksspiels benannt, sein Bruder heißt Vegas. Dies zeigt nicht nur, dass Reno in einer Welt für sich lebt und das Verbrechen, das er begehen wird, nicht nach außen dringen dürfe (so sei dies bei Geschichten, die in Las Vegas passierten, sagt er einmal). Dies hat auch mit einer seltsamen Art von Glücksrittertum zu tun. Daddy nannte Reno und Vegas immer seine Joker. Vegas wurde, wie Reno erzählt, einmal als Trumpfkarte eingesetzt, als andere nicht den Mumm hatten, einen Mord zu begehen. Doch das Glück hatte Vegas danach verlassen; er wurde erwischt, ging ins Gefängnis und starb dort. Reno überschreitet nun ebenfalls eine rote Linie: Unsere Vier wollen oder sollen ein 15-jähriges irakisches Mädchen vergewaltigen. Reno und B. B. Rush schreiten zur Tat und erschießen dabei noch gleich einen Gutteil der Familie des Opfers. McCoy kommt zwar mit, aber als er merkt, dass seine Kameraden es tatsächlich ernst meinen, versucht er vergeblich, sie von der Tat abzuhalten. Bei Salazar siegt die Lust am Dokumentieren über die Skrupel – er filmt die Tat. Später wird er von Verwandten der Opfer entführt und vor laufender Kamera enthauptet (ausgerechnet Salazar, der selbst immer die Kamera laufen ließ), ein Bild, das wir aus der Realität kennen. Um dieses Enthauptungsvideo herum baut Brian De Palma seine ansonsten weitgehend fiktive Geschichte auf.

Lebensgefahr oder willkommene Abwechslung?

Dennoch hat „Redacted“ etwas Dokumentarisches. De Palma hat in HD statt auf Zelluloid gefilmt. Die ansonsten bei ihm übliche optische Opulenz ist deutlich zurückgenommen. Bei uns kam das Kriegsdrama gar nicht erst in die Kinos; vielleicht ist es auch eher fürs Fernsehformat geeignet. Die Ästhetik erinnert an Reportagen. Dokumente aus dem Internet und geschwärzte Akten (eben „redacted“, also editiert, wie schon der Vorspann eindrucksvoll zeigt) werden immer wieder eingeblendet. Wir haben hintereinander geschnittene, aber nicht ineinander übergehende Szenen. Diese erzählen zusammengenommen zwar eine geschlossene Geschichte, aber den Fluss dieser Geschichte müssen wir uns selbst im Kopf zusammenbasteln. De Palma zeigt Momentaufnahmen; ein Szenenwechsel bedeutet auch einen Stilwechsel. Vieles ist mit (Salazars) Handkamera oder mit festinstallierten (Überwachungs-)Kameras gefilmt, ab und zu sehen wir Internetvideos, die als solche erkennbar sind, und (fiktive) Kriegsreportagen. Halt Dinge, die es auch in der Realität gibt. Beispielsweise kommt ein paarmal ein irakischer Internetkanal vor – ein feststehendes Bild mit arabischem Design und Schriftzeichen am Rand und einem Videobildschirm in der Mitte. Dort sehen wir einmal, mit Nachtsichtkamera aufgenommen, ein paar Wache schiebende US-Soldaten und ein paar unerkennbare Männer, die dort herumschleichen, anscheinend unbemerkt. Beim ersten Sehen ist kaum klar, worum es geht. Es folgt eine Szene im Vollbildmodus, von Salazar gefilmt und daher fast ohne die üblichen Farbbearbeitungen, sondern mit gleißendem und kaltem Licht, wie man das von Dokumentationen statt von Spielfilmen kennt – dieser Effekt kommt mehrfach vor. Wir sehen, wie ein Soldat Opfer einer Mine wird. Nun ist klar, dass die voranstehende Szene gezeigt hatte, wie Iraker diese Mine gelegt hatten. Immer wieder kommt es zu solchen Ellipsen, wechselt der Film die Perspektiven.

Über Schuld und Mitschuld

Hierdurch bleiben einige Dinge offen; wir müssen uns selbst Gedanken machen. Ob Flake und Rush belangt werden, ist so wenig klar wie die Frage, ob McCoy sein Trauma überwinden wird. Irritierend ambivalent verhält sich der Film ferner zu der Frage, ob Filmen (Salazar) und Dabeisein, aber Nichtverhindern (McCoy) genauso schlimm ist wie die aktive Begehung der Tat. Am Ende sehen wir in einem Internetvideo eine wütende junge Frau, die die Täter beschimpft und ihnen wünscht, Opfer einer archaischen Selbstjustiz zu werden. Man weiß nicht genau, ob sie alle oder nur die beiden aktiven Täter meint. Jedenfalls Salazar betreffend gibt es deutliche Anzeichen, dass De Palma ihn in der Mitschuld sieht. Hier hat „Redacted“ De-Palma-typische Stärken; bei dem Regisseur ging es immer um Voyeurismus und die Macht der Bilder. Die Kamera als Waffe; diese uralte Metapher passte selten so gut wie hier. De Palma zeigt ja zu einem Großteil Filme im Film und macht schon am Anfang klar, dass Bilder ein Eigenleben bekommen und die Realität machen, statt sie nur abzubilden. Salazar filmt so viel, dass er irgendwann nur noch einen anderen Filmer filmt; und die Soldaten schwadronieren darüber, ob das jetzt schwachsinnig sei, wenn „ich ’nen Film von einem drehe, der ’nen Film von mir dreht.“ Aber genau darum geht es: Filmen als selbstbezügliche Angelegenheit, die sich im Kreis dreht und auf sich selbst zurückwirft; die Realität kann hier schon einmal ausgeschlossen sein und unter den Tisch fallen – sozusagen „deleted scenes from the cutting room floor“. Auf diese Weise hatte De Palma auch in seinen großen, anscheinend ganz anderen, durchgestylten Thrillern über die Bilder und den Voyeurismus nachgedacht.

Objekte männlicher Begierde

De Palma geht nun einen Schritt weiter und macht seine Aussagen auch zum Stil. „Was ihr hier sehen werdet, ist kein Hollywoodfilm mit durchgehender Handlung“, so Salazar am Anfang über seine Doku – das könnte auch De Palma über „Redacted“ gesagt haben. „Film ist vierundzwanzigmal Wahrheit pro Sekunde“; das berühmte Godard-Zitat gibt Salazar leicht abgewandelt wieder, und auch hier spricht De Palma. Im einen wie im anderen Fall lädt er uns zu kritischen Reflexionen ein, denn „Das erste Opfer des Krieges [und also auch des Filmens] ist immer die Wahrheit“, so heißt es an anderer Stelle. Und wie sehr der Dokumentarist in Wirklichkeit mitmischt, wird bei „Redacted“ mehr als deutlich. Bezeichnenderweise entgleiten dem Filmer Salazar genau nach seinem 24-Sekunden-Spruch die Dinge, denn just dann wird er entführt und später enthauptet. Die Kamera aber überlebt. Es findet sich immer ein anderer, der sie bedienen wird.

Vom quälend langweiligen Dienst in der Fremde

Dem Zuschauer etwas über die Bildermacht zu erklären, aber ihn nicht mit selbiger zu verführen – das ist aller Ehren wert, aber De Palma geht damit ein Teil seiner emotionalen Kraft verloren. Es ist fast wie eine Rückkehr zu seinen Wurzeln, zum Beispiel zu „Murder à la Mod“ (1968), wo er zwar kunstvoll zeigte, wie man den Zuschauer mitnehmen kann, aber dies nicht tat. Wie in dem alten Film haben wir nun ebenfalls wieder eine maximale Fülle an Stilmitteln von einem Extrem ins andere. Den nüchtern ausgeleuchteten Aufnahmen steht paradoxerweise gegenüber, dass ausgerechnet in einer eingeschobenen fiktiven französischen Dokumentation die Bilder ganz anders sind: Alles ist in warmen Brauntönen gehalten, entsprechend der Hitze, den staubigen Straßen und der Bauweise in Samarra. Doch auch hier gibt es unspektakuläre Chronistenaufnahmen, die eine Durchsuchung an einem Kontrollpunkt zeigen – sehr streng, zwar kontrolliert, aber irgendwie demütigend für die Iraker, obwohl ihnen nichts passiert und sie schließlich weiterfahren dürfen. In einer Zeitrafferszene sehen wir, wie dies zum Alltag der Soldaten und der Iraker gehört. Andererseits ist der Dienst in der Fremde teilweise so quälend langweilig, dass das Knacken beim Drücken einer leeren Plastikflasche zum ohrenbetäubenden Geräusch in der Ödnis werden kann. Zeitlupe des Tons gegen Zeitraffer des Bildes. Und dann Chaos gegen Routine, Handkamera, andere Ausleuchtung, wenn es zu einem dramatischen und blutigen Zwischenfall an diesem Kontrollpunkt kommt. Sicherlich nicht von ungefähr wegen eines Missverständnisses. Gleichsam erfreulich wie verstörend ist, dass man dem handelnden Soldaten nach Betrachten der Bilder kaum einen Vorwurf machen kann – aber dann vermischt das Drama die Ebenen schon wieder: Einer der Soldaten der französischen Dokumentation ist Flake; er hat eine schwangere Frau erschossen, was man ihm nicht einmal vorwerfen kann – aber sehr wohl die Art, wie er damit umgeht. Man kann sich in „Redacted“ nie ganz sicher sein in seinem moralischen Urteil.

Nähe zu „Die Verdammten des Krieges“

Was allerdings ein bisschen bedauerlich ist, ist die meines Erachtens zu enge Anlehnung De Palmas an seinen eigenen Film „Die Verdammten des Krieges“ (1989). Weniger störend ist, wenn jemand in unterschiedlichen Varianten stilistische Wiederholungen betreibt wie etwa Hitchcock oder De Palma selbst, die dergestalt eine künstlerische Meisterschaft variier(t)en und perfektionier(t)en. Hier geht es aber um inhaltliche Übereinstimmungen bei stilistisch großen Unterschieden. „Die Verdammten des Krieges“ war die für De Palma typische große Oper; vielen zu sentimental. Man kann verstehen, dass der Regisseur an dasselbe Thema („Mord bleibt Mord, auch im Krieg“) noch einmal heranwollte, aber den Plot betreffend klaut er entschieden zu viel von sich selbst. Wir haben die frustrierten Soldaten, die murren, dass ihr Einsatz verlängert wird (im alten Film: dass sie kurz vor Einsatzende auf eine beschwerliche Mission müssen). Ein dunkelhäutiger Soldat (im alten Film dito) nimmt den Gutmenschen McCoy (Rob Devaney, im alten Film Michael J. Fox in ähnlicher Rolle) an die Kandarre, etwas misstrauischer gegenüber der vermeintlich freundlichen einheimischen Bevölkerung zu sein. Ausgerechnet der Schwarze muss wenig später Opfer einer Gewalttat werden, die von den Einheimischen ausging. Die anderen Soldaten sind gerade deshalb so frustriert, weil die gesamte Dorfbevölkerung von der Falle gewusst haben muss. Im alten Film ein Hinterhalt des Vietcong, in „Redacted“ eine Mine, die an anderer Stelle im alten Film auch vorkommt. Das Opfer hat jeweils einen Namen, der „süß“ klingt, im alten Film „Brownie“ (oder zeigt dies auch einen latenten Rassismus?), im neuen „Sweet“. Für beide Filme gilt: Nach der Gewalttat ist der Mann, der nicht mitmacht, Einschüchterungen ausgesetzt. Er stößt zunächst auf taube Ohren, als er den Vorfall melden will. Am Ende setzt er aber doch eine Untersuchung in Gang. Beide Filme enden mit einem Bild, in welchem klar ist, dass dieser Mann an seinen Traumata noch knabbern muss. Die Übereinstimmungen sind teils sehr detailliert, bis hin zu Dialogen à la „Jeder hier hat es gewusst“ (dass eine Mine gelegt wurde / dass der Vietcong wartet). Bei aller Meisterschaft im Übrigen: Man hätte sich hier ein bisschen mehr Kreativität des Regisseurs und Autors De Palma gewünscht.

Aufgesetztes Finale mit Musik von Puccini

Im Übrigen liegt aber ein weitgehend guter Film vor, zu dem noch gesagt werden sollte, dass er eben nur scheinbar semidokumentarisches Kino bietet. Wie eben auch in seinen großen Opern überlässt De Palma nichts dem Zufall, ist alles genau durchkomponiert. Opernhaft wird Musik von Händel und am Ende Puccini eingesetzt; wobei ich mich schon fragte, ob die Schlussbilder einen Verrat am vorher Gesehenen darstellen. Zu Puccini sehen wir grausam verstümmelte Leichen als „Kollateralschäden“ des Krieges; teilweise offenbar Originalaufnahmen, da die Augen geschwärzt sind, aber bei De Palma kann man nie ganz sicher sein, ob dies nicht auch nur simulierte Originale sind. Oftmals Kinder mit abgetrennten Gliedmaßen, viel Blut und schmerzverzerrtem, hilfeschreiendem Ausdruck. „Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit“; der Voyeur, der Chronist, der Kameramann beteilige sich wie ein Kämpfer und erzeuge seine eigene Wahrheit. Wollte De Palma am Ende noch einmal genau dies zeigen, indem er offen auf große Gefühle setzt? Mir scheint es gerade auch angesichts des gegenüber dem Restfilm völlig anderen Musikeinsatzes eher so, als verrate der schlaue Fuchs seine eigene Idee. Er instrumentalisiert diese (Kinder-)Leichen fürs große Gefühl und hinterfragt alles, was er vorher eindrucksvoll demonstriert hatte. Vielleicht hätte er besser bei seinem nüchterneren Ansatz bleiben sollen. Der emotionsgeladene „Die Verdammten des Krieges“ ist ebenfalls nicht schlecht, aber bei einer Mischung aus beidem entsteht eine Reibung, die sich nicht auflöst. Die letzte Szene ist in einem Film wie diesem Sand im Getriebe, und das ist schade. De Palma hätte mit dem irritierten Bild McCoys schließen sollen, das den Leichenbildern vorangeht. McCoys Freunde geben eine Party für den heimgekehrten „Kriegshelden“, aber er und seine Freundin können nicht glücklich sein. Das Bild friert ein; wieder ist es ein Bild im Film, genauer: ein Foto, das Freunde von den beiden schießen („Bilder schießen“; diese im Amerikanischen noch häufiger gebräuchliche Metapher passte selten so gut wie in „Redacted“). Der verstörte Gesichtsausdruck der beiden brennt sich ein, bleibt lange haften. Ein Foto zeigt endlich einmal mehr Wahrheit als das, was vorher immer nur eine vermeintliche Wahrheit war. Dies wäre ein gutes Schlussbild gewesen, aber De Palma setzt noch einen drauf. Nichtsdestoweniger ein ungewöhnlicher, interessanter und wichtiger Film, der zum Nachdenken und zum Überdenken des Schauens an sich einlädt. Im Interview zu „Redacted“ wünschte sich De Palma, sein Werk möge wütend machen.

Bei „Die Nacht der lebenden Texte“ hat Blogbetreiber Volker Schönenberger bereits einen Text über „Redacted“ veröffentlicht. Alle dort berücksichtigten Filme von Brian De Palma finden sich in der Rubrik Regisseure.

Ein Kamerad wird zum Schweigen verdonnert

4. Februar 2009 als Blu-ray, 6. Februar 2009 als DVD

Länge: 90 Min. (Blu-ray), 87 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 18
Sprachfassungen: Deutsch, Englisch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Redacted
USA/KAN 2007
Regie: Brian De Palma
Drehbuch: Brian De Palma
Besetzung: Patrick Carroll, Rob Devaney, Izzy Diaz, Daniel Stewart Sherman, Ty Jones, Mike Figueroa
Zusatzmaterial: Interview mit Brian de Palma, Interviews mit Flüchtlingen, Hinter den Kulissen, Trailer, Wendecover
Label/Vertrieb: Studiocanal Home Entertainment

Copyright 2020 by Tonio Klein
Szenenfotos & Packshot: © 2009 Studiocanal Home Entertainment