Die Fußgängerbrücke führte über die Schnellstraße und über den Fluss, in dessen Betonbett nur ein Rinnsal floss. Ich blickte zurück auf den großen Torbogen mit der herabhängenden Uhr. Nach zwei Freeway-Überführungen zeigte eine Leuchtschrift neben dem Fußweg an, man solle seine Papiere bereithalten. Die Embleme an der Wand im Flur des Einwanderungsgebäudes stellten wie auf Dollarnoten einen Adler und eine Pyramide dar.
Zwei Beamte beobachteten, wie ich meinen Rucksack auf ein Laufband legte und über einen Teppich mit Adler-Emblem durch die Sicherheitsschleuse schritt. Am Ende des Korridors verteilte sich die Reihe der Einreisenden auf mehrere Schalter. Ich stellte mich in die rechte Schlange, woraufhin ich zwei Schalter erreichte, von denen kurz darauf einer frei wurde. Der Beamte sah, wie ich meinen Reisepass auf das Pult legte. Er nahm ihn und blätterte darin.
»Du solltest nicht hier sein«, bemerkte der Sheriff auf der anderen Straßenseite neben seinem Streifenwagen. Ich winkte hinüber: »Bin auf dem Weg nach Portland.« »Wenn du in mein Heimatdorf nach Mississippi kommen würdest«, erwiderte der Sheriff, »würden die Leute dich ziemlich anstarren.« In einer Hochhausschlucht San Diegos betrat ich über eine Treppe die Bank. Mehrere Schalter befanden sich u-förmig vor den Wänden des Raums. Nachdem ich mit Bargeld wieder hinaus getreten war, machte ich mich auf den Rückweg, um meine Schulden bei Juan zu begleichen. Weil es spät war, nahm ich ein Apartment in der Travelodge. Die Rezeptionistin sagte am Telefon, ein Fremder sei hier.
Vor dem Eingang des Pantheons bot mir eine alte Frau Devotionalien an, Bildchen der Märtyrerin Cecilia. Weil sie sich weigerte, ihrem Glauben abzuschwören, so erzählte die Händlerin, habe man Cecilia zum Tod durch Ersticken mit heißen Dämpfen verurteilt. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht dieses Martyrium überlebt habe, habe das Gesetz für sie die Strafe der Flucht vorgesehen.
Die Verurteilte habe vor dem Wurf eines Speers, um sich selbst zu retten, in kurzer Zeit ein Stück rennen und über eine Mauer klettern sollen, was ihr trotz der knapp bemessenen Zeit um ein Haar geglückt sei. Doch anstatt sie frei zu lassen, habe man sie wieder gefangen und der Henker habe versucht, sie zu enthaupten, was nach drei Schlägen nicht gelungen sei. Am Hals verletzt habe Cecilia noch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht gelebt und sei nach ihrem Tod im Pantheon beigesetzt worden.
Es liegt die Vermutung nahe, Cecilia könne Wunder vollbringen, weshalb diejenigen, die an die Legende glauben, zum Pantheon pilgern. Nachdem mir die alte Frau ein Bildchen und eine Kerze verkauft und ich das Pantheon betreten hatte, stellte ich das Bildchen auf Cecilias Grabstein, platzierte die Kerze davor und zündete sie an.
Mit dem Bleistift zeichne ich die Perspektive. Danach füge ich noch einige Details hinzu. Das Radiergummi ist dabei der beste Helfer. Später koloriere ich mit den Wasserfarben.
Ich wachte leicht benommen auf. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war. Die kühle Brise des Ventilators streifte mein Gesicht. In einer Ecke an der Zimmerdecke bemerkte ich einen handtellergroßen dunklen Fleck. Ich setzte mich auf die Bettkante. Nach einer Weile stand ich auf und öffnete das Fenster zum Hof. Draußen stand die Luft.
Auf dem Weg zur Dusche durchquerte ich den Flur. Auf den Türen standen Nummern in abgeblätterter Farbe. Eine Glühbirne flackerte in kaltem Licht in ihrer Fassung an der Decke. Durchs offene Fenster am Ende des Flurs drang Lärm von der Straße herein. Nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, stieg ich die Treppe hinab ins Foyer. Juan, der Hotelier, begrüßte mich an der Rezeption. Ich fragte ihn, ob er mir für meine Rückkehr ein Zimmer reservieren könne.
»Kannst die Neun behalten«, erklärte er, woraufhin ich ihn fragte: »Wie viel schulde ich dir?« Er schlug ein speckiges Notizbuch auf und blätterte darin herum. »Acht Dollar und neunzig Cents«, las er, »für die Gamba-Pizza, fünf achtzig fürs Frühstück, sechzehn fürs Einzelzimmer. Macht alles in allem dreißig Dollar und siebzig Cents.« »Und was ist mit meinem Küchendienst?« »Verdammt! Abzüglich Lohn für vier Stunden.« »Viereinhalb«, korrigierte ich ihn. »Meinetwegen«, stimmte er trocken zu. Er kritzelte mit dem Bleistift im Notizbuch: »Bleiben acht Dollar und zwanzig Cents.« »Wenn du bezahlt hast«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »kriegst du deine Armbanduhr wieder.« Er wolle sich nämlich neue Stiefel kaufen, erklärte er, deswegen habe er sich gestern im Schuhgeschäft ein schönes Paar ausgesucht.
Im Traum spazierte ich über die Coahuila. Ich blieb stehen. Ich träumte, dort auf der Straße das Mädchen gesehen zu haben, von dem ich rückblickend glaube, es könnte dasselbe Mädchen sein, dem ich später im Rome’s begegnet bin und über das ich erfuhr, es hieße Helena. Es könnte ihr aber auch zum Verwechseln ähnlich gesehen haben. Sie lief ein bisschen zu weit weg, um sicher zu sein.
Als ich aufwachte, war es noch tiefe Nacht. Prompt schlief ich wieder ein. Kurz darauf weckte mich ein Geräusch. Ich wollte aufstehen und nachsehen, doch mir fielen die Augen zu. Im Halbschlaf bevor ich wieder eingeschlafen war dachte ich, Juan habe den Tisch verrückt. Ich träumte, Juan säße mir gegenüber und mischte Karten. Er legte die Karten mit der Vorderseite nach oben auf den Tisch.
Cecilia hätte einen Teelöffel gefunden und würde mit der Löffelschale den Putz von der spröden Mauer kratzen. Während sie sich mit der einen Hand abstützte, umklammerte ihre andere Hand den Griff. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Mörtel bröckelte auf den Boden.
Mein Bruder hat kürzlich während eines Umzugs eine dreißig Jahre alte Tuschezeichnung von mir wiedergefunden.
Beim Anblick der Zeichnung kommt mir die Erinnerung wieder an Hoyerswerda, Rostock, an die Morde von Mölln, daran, wie erschrocken ich damals war und welche Angst ich hatte, dass alles wieder losgeht.
(c) belmonte 2022
Mit den NSU-Morden, mit Halle und Hanau ist die Serie leider auch nach dreißig Jahren noch immer nicht zum Ende gekommen.
Obwohl ich nach einigen Tagen noch nicht erholt war, machte ich mich auf den Weg. Der Bus fuhr aus Huehue ab. Bei meiner Einreise nach Mexiko bekam ich ein Papier, aus dem hervorging, ich solle als Tourist eine Gebühr von neunzig Peso an die Tourismusbehörde bei der nächsten Bank zahlen.
Wenn ich gewusst hätte, welche Konsequenzen der Verlust des Papiers bei meiner Ausreise aus Mexiko haben würde, hätte ich es nicht weggeworfen. Es war nicht so, dass ich es damals satt gehabt hätte, bei jeder Gelegenheit kleine Beträge zu zahlen, vielmehr ging es mir um den symbolischen Akt: Das Wegwerfen des Papiers hatte mich von einer ideellen Last befreit, die ich mein bisheriges Leben mit mir herumgetragen hatte.
Bevor sich das Delirium fortan wie ein Schleier über meinen Geist legte, fühlte ich mich fernab von zu Hause für eine kurze Zeit von der Vergangenheit befreit. Nach meiner Ankunft in Mexiko-Stadt fuhr ich mit der Metro zum Busbahnhof des Nordens, setzte mich in der Wartehalle des Terminals auf einen roten Plastikstuhl und wartete auf meinen Bus nach Tijuana.
Wasserdampf drang aus einem Rohr, das in eine Wand des Verlieses eingelassen war, und nebelte das Verlies ein. Cecilia hockte mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen vor den Knien auf dem Boden. Sie hob ihren Ellenbogen und steckte das Gesicht in die Armbeuge. Es war stickig und dunkel. Der heiße Dampf brannte in ihrer Kehle. Sie hustete.
Cecilia stemmte sich gegen die Müdigkeit. Sie hob den Kopf, stand auf, drehte sich um und stellte sich ihr Spiegelbild vor. Es wäre konturlos und würde mit dem Raum hinter ihrem Rücken verschmelzen. In diesem Moment wäre sie wie gelähmt. Sie stellte sich vor, wie sich der Nebel rot leuchtend ausdehnen würde bis in alle Winkel des Raums, in dem die Zeit stillstände. Sie wäre gefangen in einer endlosen Schleife.
Raue Steinwände begrenzten das fensterlose Zimmer. Von der Decke fiel ein warmer Regen auf Cecilia. Ihre Tunika hatte sich mit Wasser vollgesogen, das Leinen heftete sich an ihre Haut. Sie hockte sich wieder hin. Der Dampf bildete Wolken mit sich ständig verändernden Mustern, in denen sie las. Einige Male erkannte sie Figuren in ihnen, andere Male Gesichter.
Nach meiner Rückkehr ins Hotelzimmer nahm ich Seife und Handtuch. Ich betrat den Flur und passierte die Türen der anderen Zimmer. Die Dusche befand sich am Ende des Flurs. Beim Öffnen der Tür stieg mir eine Wolke Wasserdampf entgegen. Im Raum befanden sich hinter weiteren Türen mehrere Duschen.
Nachdem ich vergeblich versucht hatte, Geld bei den Banken in der Stadt abzuheben, wollte ich am nächsten Morgen über die Grenze, um es bei einer Bank in San Diego zu versuchen. Ich hatte im Restaurant Rome’s unten an der Ecke anschreiben lassen. An den Wänden des Speiseraums hingen viele Bilder mit Straßenszenen. Ein Bild zeigte den Besitzer des Restaurants, zugleich der Hotelier des Montebello, in der Küche. Ich hatte dem Kellner versprochen, am nächsten Abend wiederzukommen, um die Rechnung zu bezahlen.
Ein Geräusch weckte mich in der Nacht. Ich stieg die Treppe hinab, um nachzusehen. Im Foyer saß, mir den Rücken zugewandt, der Hotelier. Die Lampe auf dem Tisch warf ihr mattes Licht auf seine Hände, die rhythmisch einen Stapel Karten mischten. Nachdem ich die Treppe wieder hinaufgestiegen und in mein Zimmer zurückgegangen war, legte ich mich wieder ins Bett und schlief prompt ein.
Nachdem ich San Mateo verlassen hatte, fuhr ich auf direktem Weg durch die Hochebene zurück nach Huehue. Aus dem Busfenster blickte ich auf Häuser aus Adobe, Lehmziegeln, die entweder vereinzelt oder als Haufen in der nebligen Ebene auftauchten. Das trübe Tageslicht war bereits erloschen, als der Bus in der rauen Steppe bei einer Raststätte am Straßenrand hielt.
Die gezackte Silhouette der Berge zeichnete sich im milchigen Mondlicht am Horizont ab. Darüber war der Nachthimmel sternenklar. Der Gedanke an meine Rückfahrt machte mich wehmütig. Es war mir nicht klar, ob ich Narcisa jemals wiedersehen würde. Ich betrat die Raststätte. Ein Geruch nach Gebratenem füllte den Speiseraum. Zum Abendbrot gab es schwarze Bohnen, Eier und Tortillas. Nach dem Essen machten wir uns wieder auf den Weg.
Unterwegs bekam ich Fieber, das durch einen Infekt ausgelöst worden war, den ich mir in San Mateo eingefangen hatte. Als wir noch vor Sonnenaufgang in Huehue eintrafen, bereitete mir jede Bewegung Schmerzen. Nachdem ich körperlich wieder gesund war, litt mein Geist noch eine ganze Weile unter den Folgen der Erkrankung. Am späten Vormittag besorgte ich mit letzter Kraft Medikamente aus der Apotheke.
Eine kurze Warnung vorweg: William Faulkners Buch Sartoris verstört und wirkt nach. Manche der Protagonisten sind lebensüberdrüssig oder sie folgen einer Todessehnsucht. Es gibt Schilderungen brutaler Gewalt, die Sprache ist derb, teils rassistisch. Wer es allerdings trotzdem liest, gewinnt einen tiefen Eindruck über das „Southern Gothic“-Genre.
Der Roman „Sartoris“ ist nach „Licht im August“ mein zweites Buch des US-Autors und Literatur-Nobelpreisträgers William Faulkner. Er handelt von vier Generationen einer Familie von Südstaaten-Aristokraten. Die Aristokratie befindet sich aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche in der Folge des Amerikanischen Bürgerkriegs im Niedergang. Das Buch erschien 1929 und stellt eine verkürzte Fassung des Werkes „Flags in the Dust“ dar, das posthum erstmals 1973 veröffentlicht wurde. Die Handlung spielt vor circa hundert Jahren, von 1919 bis 1920, also kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs.
William Faulkner: Sartoris
Das Haus der Sartoris liegt vier Meilen entfernt von Jefferson, der fiktiven Kreisstadt des Yoknapatawpha County, einem fiktiven Landkreis im Nordwesten von Mississippi, 75 Meilen entfernt von Memphis, Tennessee. Dort liegt es in einem Tal, das ein Hügelland im Osten, das sogenannte Oberland, begrenzt. Es gibt eine Veranda mit einer Kolonnade. Das Haus ist still und hell und sieht einladend aus:
„Die weiße Einfachheit des Gebäudes träumte ungestört zwischen uralten Bäumen …“
(S. 12)
Heimkehr und Flucht
Das Buch besteht aus fünf Teilen mit jeweils zwei bis neun Kapiteln. Gegen Ende des ersten Teils kehrt der junge Bayard aus dem Krieg heim. Er und sein Zwillingsbruder John waren Kampfpiloten. Die Staffel eines Schülers von Manfred Richthofen hatte John im Jahr zuvor bei Lille mit seinem Flugzeug abgeschossen, was Johnny das Leben kostete. Drei Monate später starben auch Caroline, Bayards Frau, und ihr neugeborener Sohn. Auch seine Eltern sind bereits tot: seine Mutter Lucy und sein Vater John.
Nach seiner Heimkehr kauft er sich in Memphis ein Automobil und rast damit fortan durch den Landkreis. Auf diese Weise versucht er, die Trauer über die Verluste und seine Schuldgefühle – er erlebt Flashbacks von Johns Flugzeugabsturz – im Geschwindigkeitsrausch zu vergessen, oder er versucht sie durch andere waghalsige Handlungen zu verdrängen, etwa indem er betrunken einen ungezähmten Hengst reitet, mit dem er stürzt. Während sich das Pferd aufrappelt, bleibt Bayard mit einer Kopfverletzung liegen.
Nachdem Doc Loosh Peabody ihn mit einem Kopfverband und einem Schluck Whiskey versorgt hat, soll ihn Suratt, ein Agent, mit seinem Firmenwagen nach Hause bringen. Stattdessen fahren sie jedoch in Begleitung eines weiteren Jünglings (Hub) zu einer Quelle, wo sie zu dritt aus einem Krug Whiskey trinken:
„ (…) und die drei saßen in ihrer kleinen friedlichen Mulde, fern von Welt und Zeit und umhaucht von dem kühlen und reinen Atem der Quelle und vom Sintern des Sonnenlichts zwischen den Holunderbüschen und Weiden, das wie verdünnter Wein war. Auf der Fläche der Quelle spiegelte sich der Himmel, betupft mit reglosen Buchenblättern.“
(S. 140 f.)
Familie, Tradition, Gewalt
Dann ist da sein Großvater, der alte Bayard, ein schwerhöriger Bankier, der Dumas liest. Er macht nachmittags Reitausflüge auf dem Pferd in die Umgebung, wobei ihn sein alter Hund begleitet. Sein Vater, Oberst John Sartoris, war ein Bürgerkriegsheld und hatte einst die Eisenbahn gebaut. Er erschoss bei einem Streit über das Wahlrecht für Schwarze mit seinem dreiläufigen Derringer kurzerhand zwei Yankees in ihrem Quartier, als die beiden gerade an einem Tisch saßen, auf dem ihre Pistolen lagen. Ein gewisser Redlaw tötete ihn, als er unbewaffnet und seiner Vergehen überdrüssig war. Der Geist des Obersten liegt wie ein Schatten über dem Haus, seinen Bewohnern und der Umgebung.
Oberst John Sartoris hatte zwei jüngere Geschwister: Bayard und Virginia (Tante Jenny). Bayard starb 1862 im Alter von 23 Jahren im Amerikanischen Bürgerkrieg vor der zweiten Schlacht von Manassas (Schlachten von „Bull Run“) als Adjutant von Jeb Stuart in Virginia. Tante Jenny kam sieben Jahre nach dessen Tod aus Carolina. Sie erzählt die Geschichte von Bayards Tod bis ins hohe Alter, wobei sie sie immer mehr ausschmückt.
Tante Jenny sorgt dafür, dass Sheriff Buck den jungen Bayard über Nacht ins Gefängnis steckt, weil dieser, statt mit seiner Kopfwunde nach Hause zu kommen, bis spät in die Nacht mit Hub, Mitch, einem Frachtagenten, und drei schwarzen Musikern eine Spritztour zum Nachbarort gemacht hat.
Bevor der alte Bayard im Automobil seines Enkels mitfährt, holt ihn Simon Strother, der oberste Hausdiener, jeden Feierabend mit der Kutsche aus Jefferson von der Bank ab und bringt ihn nach Hause. Während der Fahrt führen beide lange Gespräche. Simons Sohn Caspey, auch ein Kriegsheimkehrer, war bei einem Arbeitsbataillon in Frankreich. Nach seiner Rückkehr ist er demoralisiert und hat sich in den Kopf gesetzt, sich von den Weißen nichts mehr sagen zu lassen. Eines Nachmittags kommt der alte Bayard nach Hause. Als er bemerkt, dass Tante Jenny mit seinem Enkel ausgefahren und sein Pferd noch nicht gesattelt ist, prügelt er kurzerhand den aufsässigen Caspey mit einem Stück Feuerholz auf den Kopf die Treppe hinunter. Simon sagt daraufhin zu seinem Sohn:
„Und du solltest lieber Gott danken, daß (sic) Er dir so’n harten Kopf gemacht hat. Jetzt gehste und holst (sic) das Pferd und überläßt (sic) denen in der Stadt das Geschwätz von Niggerfreiheit: die könnens vielleicht verkraften. Wozu solln wir Nigger uns überhaupt ne Freiheit wünschen, möcht ich wissen? Haben wir jetzt nich so viele Weiße, wie wir aushalten können?“
(S. 86)
Die Handgreiflichkeit gegen Caspey war eine Übersprunghandlung, denn eigentlich war es Isom, Caspeys 16-jährigem Neffen, vorbehalten, das Pferd zu satteln. Die Bemerkung des alten Bayard kurz darauf, er könne sein Pferd auch selbst satteln, wirkt da recht bigott.
Die Sklaverei der Kolonialzeit ist ein dunkler Fleck in der Geschichte der Südstaaten. Nach ihrer Abschaffung 1865 erodierte diese zwar als Institution, die Gleichstellung der Schwarzen blieb jedoch in der Zeit der sogenannten Rekonstruktion – und bis heute – unerreicht. Außerdem war Hand in Hand mit der wirtschaftlichen Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft auf der Plantage die „White Supremacy“-Ideologie entstanden: Weiße fühlten sich Schwarzen gegenüber „rassisch“ überlegen und erwarteten von ihnen absoluten Gehorsam. In der Folge wirkten sich die Machtverhältnisse auch auf die Beziehungen der Schwarzen untereinander aus: So fühlten sich zum Beispiel die von einer aristokratischen Südstaaten-Familie als Dienerschaft in dessen „erweiterten Kreis“ integrierten Schwarzen wiederum denjenigen überlegen, die auf den Feldern Baumwolle pflückten. Darüber hinaus gibt es in „Sartoris“ auch Gewalt innerhalb der Kernfamilie der Diener – so prügelt Simon, der eine Zeit lang Dekan der Baptisten-Kirche war, seinen Enkel Isom.
Der Fleck und das Herz
William Faulkner beschreibt den moralischen Verfall der Sartoris schonungslos. Obwohl alle Familienmitglieder roh sind, empfindet man gleichwohl Empathie mit ihnen, weil sie innerlich zerrissen sind. Die Handlung ist oft ironisch gebrochen oder tragikomisch, wofür exemplarisch die Geschichte von dem Fleck steht, den der alte Will Falls von der Armenfarm des Countys eines Tages an der Wange des alten Bayard entdeckt. Wer das Buch noch nicht kennt, sollte die folgende Textstelle überspringen, weil ab hier gespoilert wird.
Tante Jenny geht mit ihrem Neffen gegen dessen Willen zum jungen Doktor Alford. Dieser schlägt vor, die Geschwulst zu entfernen, doch Bayard weigert sich. Zu seinem Glück betritt in diesem Moment Loosh Peabody, der „dickste Mann im ganzen County“, die Praxis seines Kollegen. Nachdem er seine Brille aufgesetzt und die Stelle untersucht hat, nimmt er Bayard mit in seine Praxis, die sich gegenüber, hinter einer abgewetzten Tür, befindet. Dort will er dessen Herz abhören, weil er sich mehr um Bayards allgemeinen Gesundheitszustand sorgt als um die Geschwulst – zumal er davon erfahren hat, dass er im Automobil seines Enkels mitfährt:
„ (…) und er zog eine Schublade hervor und entnahm ihr eine Kiste Zigarren und eine Handvoll künstlicher Fliegen zum Forellenfischen und einen schmutzigen Kragen, und zuletzt brachte er ein Stethoskop zum Vorschein; dann warf er die übrigen Sachen wieder in die Schublade zurück und drückte sie mit seinem Knie zu.“
(S. 105)
Später behandelt der alte Falls die Stelle in Bayards Gesicht mit einer Salbe, die seine Großmutter vor 130 Jahren von einer Choctaw-Indianerin bekommen hatte und von der niemand weiß, welche Bestandteile sie hat. Angeblich soll die Geschwulst am neunten Tag im Juli abfallen. Nachdem sich Tante Jenny und der alte Bayard mehrere Tage lang jeden Abend gestritten haben, fahren sie zusammen mit Doktor Alford zu einem Spezialisten nach Memphis. Als der Spezialist gerade mit seinen Fingern die Stelle betasten will, fällt der, inzwischen von der Salbe geschwärzte, Auswuchs ab und es erscheint auf seiner „Wange eine runde Stelle rosig-heller Haut, wie bei einem Baby.“ (S. 240) Drei Wochen später erhalten die Sartoris die Rechnung des Spezialisten über fünfzig Dollar für dessen Behandlung.
Die Benbows, die MacCallums und die Snopes
Neben den Sartoris treten zahlreiche weitere Figuren auf, die ebenfalls alle sowohl verloren als auch leicht exzentrisch sind: Die Benbows sind allerdings ganz anders als die Sartoris und bilden deshalb einen willkommenen Kontrast.
Die 26-jährige Narcissa Benbow lebt mit ihrer etwas altmodischen Tante Sally Wyatt, die nicht blutsverwandt mit ihr ist, in einem im Tudorstil errichteten Haus in einer beschaulichen Gegend in Jefferson. Etwa nach der Hälfte der Erzählung kehrt ihr sieben Jahre älterer Bruder Horace, ein Anwalt mit einer Leidenschaft für die Glasbläserei, aus dem Krieg aus Europa heim, ohne sich dort an Kampfhandlungen beteiligt zu haben. Er hat eine Affäre mit der verheirateten Belle Mitchell, was zwischenzeitlich zu einer Entfremdung zwischen ihm und seiner Schwester führt. Julia, die Mutter der beiden, starb kurz vor ihrem Mann Will:
„Julia Benbow starb eines sanften Todes, als Narcissa sieben war, sie war aus dem Leben der Geschwister entfernt worden, wie man wohl ein Lavendelbeutelchen aus einem Wäscheschrank entfernt, und sie hinterließ eine zart verweilende Unfaßlichkeit, und als Narcissa heranwuchs, sieben und acht und neun Jahre alt wurde, schmeichelte sie den anderen beiden und beherrschte sie.“
(S. 180)
Narcissa und der junge Bayard können einander nicht ausstehen – ob sich da etwa eine Liebesbeziehung abzeichnet?
Dann sind da die MacCallums, sechs Brüder, die mit ihrem Vater in einem 18 Meilen entfernten Blockhaus in den Bergen leben, sechs Meilen von Mount Vernon, dem nächsten Dörfchen. Dort leben sie recht abgeschieden von der Jagd. Im besten Wortsinn könnte man sie etwas spöttisch als Hinterwäldler bezeichnen. Einige der Brüder tauchen manchmal in Jefferson auf. Die Zwillinge Bayard und John hatten vor einigen Jahren in ihren Ferien mit ihnen Füchse und Waschbären gejagt. Eines Tages im Winter gelangt der junge Bayard – auf der Flucht vor den Konsequenzen seiner Handlungen – durch die Fährte einer Füchsin mit seinem Pferd zufällig wieder zu ihnen.
Und dann gibt es da noch die Snopes. Eine seltsame Familie, dessen Mitglieder einer nach dem anderen aus Frenchman’s Bend, einer kleinen Siedlung im Oberland, nach Jefferson kamen und dort nun alle erdenklichen Gewerbe ausüben. Byron Snopes, der Buchhalter des alten Bayard, schickt Narcissa anonyme Briefe und stellt ihr heimlich nach – heute würde man ihn einen Stalker nennen. Dieser Handlungsstrang ist allerdings recht lose in die Erzählung eingeflochten.
Hoffnung
Der Roman verwebt virtuos Gegenwart und Vergangenheit. Die Handlung spielt manchmal leicht zeitversetzt oder es gibt Passagen, die entweder Versatzstücke aus der Erinnerung darstellen oder aus einer bestimmten Perspektive teils weit in der Vergangenheit liegende Ereignisse erzählen. So entsteht – sofern man sich auf Faulkners verschachtelt-filmischen Stil einlässt – ein dichtes Panorama des Landstrichs und seiner Figuren.
Für all jene, die sich näher mit Faulkners Werk beschäftigen wollen, sei in diesem Zusammenhang das Projekt DIGITAL Yoknapatawpha wärmstens empfohlen – dort findet man bei „Flags in the Dust“ auch eine Landkarte des Countys mit einer Visualisierung aller relevanten Schauplätze, Figuren und Ereignisse des Romans.
„Sartoris“ ist übrigens William Faulkners erster Roman, dessen Handlung in dem County spielt und bildet somit den Auftakt zu seinem Südstaaten-Romanzyklus. Das Wort „Yoknapatawpha“ entstammt der Sprache der Chickasaw-Indianer und bedeutet soviel wie „Fluss, der das Land teilt“.
Am Ende bringt Narcissa ihr Kind zur Welt. Sie gibt ihrem Sohn den Namen Benbow: Der erste Sartoris, der weder Bayard noch John heißt – wenn der Name nicht Programm und das mal kein Zeichen ist für den endgültigen Bruch mit der Tradition.
(c) valentino 2021
William Faulkner: Sartoris, Verlag Volk und Welt, Berlin 1988, 380 S.
Ich nahm ein gelbes Taxi an der Kreuzung Avenida Constitución und Carrillo Puerto und zahlte dem Fahrer fünf Pesos. Wir fuhren los. Auf Höhe der Zona Norte lag zwischen der Metallwand und San Ysidro, der ersten Siedlung auf der anderen Seite, ein mehrere Kilometer breiter sandiger Streifen, auf dem vereinzelt Sträucher wuchsen. Danach passierten wir eine tiefe Schlucht, dessen Hänge mit Hütten übersät waren.
In Playas stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Die Skyline von San Diego mit der Coronado-Brücke lag als spielzeuggroße Silhouette in einiger Entfernung hinter dem Grenzzaun im Dunst am Horizont. Die rostfarbene, metallene Wand ragte auf Holzpfählen dreißig Meter ins Meer. Über der Wasseroberfläche hingen kleine weiße Wolken am blauen Himmel.
Ich lief hinunter zum Strand. Irgendwo auf der anderen Seite würde sich Cecilia befinden. Doch bis Portland war es ein weiter Weg und ich müsste noch eine Nacht in Tijuana bleiben, bevor ich die Grenze überqueren würde. Mit diesem Ziel vor Augen kehrte ich auf die Promenade zurück und aß bei einem Imbiss-Wagen Garnelen-Tacos.
Narcisa setzte sich an den Tisch. Während sie mir gegenüber auf dem Holzstuhl saß, erzählte sie von einem Brief, den Cecilia ihr geschrieben hatte. Aus diesem gehe hervor, sie arbeite in einem Hotel in Portland. Narcisa kramte in ihrer Tasche, holte einen Umschlag heraus und öffnete ihn. Ein Foto, das Cecilia mit anderen Hotelangestellten zeigte, lag dem Brief bei.
Damals war mir nicht klar, dass ich Narcisa auf lange Zeit nicht wiedersehen würde. Auf dem Rückweg nach Huehue fiel ich in ein Delirium, das sich als Beginn einer Blockade erwies. Nach meiner Genesung verstrich eine geraume Weile, in der ich nichts weiter tat, als meinen Gedanken nachzuhängen. Es kommt mir vor, als wäre ich Narcisa erst gestern begegnet. Zugleich scheint mir, als hätte ihr ein anderer Mensch am Tisch gegenüber gesessen.
Beim Blick aus dem Fenster bemerkte ich den hereinbrechenden Morgen. Die Sonne ging über den wolkenverhangenen Berghängen auf. Narcisa verabschiedete sich und verließ den Raum durch die Tür ins neblige Morgengrauen. Lediglich einige Krümel weißer Käse blieben auf ihrem Teller zurück.