Unterwegs zu Cecilia | 16. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Die Fußgängerbrücke führte über die Schnellstraße und über den Fluss, in dessen Betonbett nur ein Rinnsal floss. Ich blickte zurück auf den großen Torbogen mit der herabhängenden Uhr. Nach zwei Freeway-Überführungen zeigte eine Leuchtschrift neben dem Fußweg an, man solle seine Papiere bereithalten. Die Embleme an der Wand im Flur des Einwanderungsgebäudes stellten wie auf Dollarnoten einen Adler und eine Pyramide dar.

Zwei Beamte beobachteten, wie ich meinen Rucksack auf ein Laufband legte und über einen Teppich mit Adler-Emblem durch die Sicherheitsschleuse schritt. Am Ende des Korridors verteilte sich die Reihe der Einreisenden auf mehrere Schalter. Ich stellte mich in die rechte Schlange, woraufhin ich zwei Schalter erreichte, von denen kurz darauf einer frei wurde. Der Beamte sah, wie ich meinen Reisepass auf das Pult legte. Er nahm ihn und blätterte darin.

»Du solltest nicht hier sein«, bemerkte der Sheriff auf der anderen Straßenseite neben seinem Streifenwagen. Ich winkte hinüber: »Bin auf dem Weg nach Portland.«
»Wenn du in mein Heimatdorf nach Mississippi kommen würdest«, erwiderte der Sheriff, »würden die Leute dich ziemlich anstarren.«
In einer Hochhausschlucht San Diegos betrat ich über eine Treppe die Bank. Mehrere Schalter befanden sich u-förmig vor den Wänden des Raums. Nachdem ich mit Bargeld wieder hinaus getreten war, machte ich mich auf den Rückweg, um meine Schulden bei Juan zu begleichen. Weil es spät war, nahm ich ein Apartment in der Travelodge. Die Rezeptionistin sagte am Telefon, ein Fremder sei hier.

(c) valentino 2022

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Unterwegs zu Cecilia | 15. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Vor dem Eingang des Pantheons bot mir eine alte Frau Devotionalien an, Bildchen der Märtyrerin Cecilia. Weil sie sich weigerte, ihrem Glauben abzuschwören, so erzählte die Händlerin, habe man Cecilia zum Tod durch Ersticken mit heißen Dämpfen verurteilt. Nachdem sie einen Tag und eine Nacht dieses Martyrium überlebt habe, habe das Gesetz für sie die Strafe der Flucht vorgesehen.

Die Verurteilte habe vor dem Wurf eines Speers, um sich selbst zu retten, in kurzer Zeit ein Stück rennen und über eine Mauer klettern sollen, was ihr trotz der knapp bemessenen Zeit um ein Haar geglückt sei. Doch anstatt sie frei zu lassen, habe man sie wieder gefangen und der Henker habe versucht, sie zu enthaupten, was nach drei Schlägen nicht gelungen sei. Am Hals verletzt habe Cecilia noch einen weiteren Tag und eine weitere Nacht gelebt und sei nach ihrem Tod im Pantheon beigesetzt worden.

Es liegt die Vermutung nahe, Cecilia könne Wunder vollbringen, weshalb diejenigen, die an die Legende glauben, zum Pantheon pilgern. Nachdem mir die alte Frau ein Bildchen und eine Kerze verkauft und ich das Pantheon betreten hatte, stellte ich das Bildchen auf Cecilias Grabstein, platzierte die Kerze davor und zündete sie an.

(c) valentino 2022

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Unterwegs zu Cecilia | 14. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Ich wachte leicht benommen auf. Im ersten Moment wusste ich nicht, wo ich war. Die kühle Brise des Ventilators streifte mein Gesicht. In einer Ecke an der Zimmerdecke bemerkte ich einen handtellergroßen dunklen Fleck. Ich setzte mich auf die Bettkante. Nach einer Weile stand ich auf und öffnete das Fenster zum Hof. Draußen stand die Luft.

Auf dem Weg zur Dusche durchquerte ich den Flur. Auf den Türen standen Nummern in abgeblätterter Farbe. Eine Glühbirne flackerte in kaltem Licht in ihrer Fassung an der Decke. Durchs offene Fenster am Ende des Flurs drang Lärm von der Straße herein. Nachdem ich meine Sachen gepackt hatte, stieg ich die Treppe hinab ins Foyer. Juan, der Hotelier, begrüßte mich an der Rezeption. Ich fragte ihn, ob er mir für meine Rückkehr ein Zimmer reservieren könne.

»Kannst die Neun behalten«, erklärte er, woraufhin ich ihn fragte: »Wie viel schulde ich dir?«
Er schlug ein speckiges Notizbuch auf und blätterte darin herum.
»Acht Dollar und neunzig Cents«, las er, »für die Gamba-Pizza, fünf achtzig fürs Frühstück, sechzehn fürs Einzelzimmer. Macht alles in allem dreißig Dollar und siebzig Cents.«
»Und was ist mit meinem Küchendienst?«
»Verdammt! Abzüglich Lohn für vier Stunden.«
»Viereinhalb«, korrigierte ich ihn.
»Meinetwegen«, stimmte er trocken zu. Er kritzelte mit dem Bleistift im Notizbuch: »Bleiben acht Dollar und zwanzig Cents.«
»Wenn du bezahlt hast«, fügte er nach einer kurzen Pause hinzu, »kriegst du deine Armbanduhr wieder.«
Er wolle sich nämlich neue Stiefel kaufen, erklärte er, deswegen habe er sich gestern im Schuhgeschäft ein schönes Paar ausgesucht.

(c) valentino 2022

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Unterwegs zu Cecilia | 13. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Im Traum spazierte ich über die Coahuila. Ich blieb stehen. Ich träumte, dort auf der Straße das Mädchen gesehen zu haben, von dem ich rückblickend glaube, es könnte dasselbe Mädchen sein, dem ich später im Rome’s begegnet bin und über das ich erfuhr, es hieße Helena. Es könnte ihr aber auch zum Verwechseln ähnlich gesehen haben. Sie lief ein bisschen zu weit weg, um sicher zu sein.

Als ich aufwachte, war es noch tiefe Nacht. Prompt schlief ich wieder ein. Kurz darauf weckte mich ein Geräusch. Ich wollte aufstehen und nachsehen, doch mir fielen die Augen zu. Im Halbschlaf bevor ich wieder eingeschlafen war dachte ich, Juan habe den Tisch verrückt. Ich träumte, Juan säße mir gegenüber und mischte Karten. Er legte die Karten mit der Vorderseite nach oben auf den Tisch.

Cecilia hätte einen Teelöffel gefunden und würde mit der Löffelschale den Putz von der spröden Mauer kratzen. Während sie sich mit der einen Hand abstützte, umklammerte ihre andere Hand den Griff. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn. Mörtel bröckelte auf den Boden.

(c) valentino 2022

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Unterwegs zu Cecilia | Zwölfter Teil

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Illustration: Valentino

Obwohl ich nach einigen Tagen noch nicht erholt war, machte ich mich auf den Weg. Der Bus fuhr aus Huehue ab. Bei meiner Einreise nach Mexiko bekam ich ein Papier, aus dem hervorging, ich solle als Tourist eine Gebühr von neunzig Peso an die Tourismusbehörde bei der nächsten Bank zahlen.

Wenn ich gewusst hätte, welche Konsequenzen der Verlust des Papiers bei meiner Ausreise aus Mexiko haben würde, hätte ich es nicht weggeworfen. Es war nicht so, dass ich es damals satt gehabt hätte, bei jeder Gelegenheit kleine Beträge zu zahlen, vielmehr ging es mir um den symbolischen Akt: Das Wegwerfen des Papiers hatte mich von einer ideellen Last befreit, die ich mein bisheriges Leben mit mir herumgetragen hatte.

Bevor sich das Delirium fortan wie ein Schleier über meinen Geist legte, fühlte ich mich fernab von zu Hause für eine kurze Zeit von der Vergangenheit befreit. Nach meiner Ankunft in Mexiko-Stadt fuhr ich mit der Metro zum Busbahnhof des Nordens, setzte mich in der Wartehalle des Terminals auf einen roten Plastikstuhl und wartete auf meinen Bus nach Tijuana.

(c) valentino 2021

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Unterwegs zu Cecilia | Elfter Teil

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Illustration: Valentino

Wasserdampf drang aus einem Rohr, das in eine Wand des Verlieses eingelassen war, und nebelte das Verlies ein. Cecilia hockte mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen vor den Knien auf dem Boden. Sie hob ihren Ellenbogen und steckte das Gesicht in die Armbeuge. Es war stickig und dunkel. Der heiße Dampf brannte in ihrer Kehle. Sie hustete.

Cecilia stemmte sich gegen die Müdigkeit. Sie hob den Kopf, stand auf, drehte sich um und stellte sich ihr Spiegelbild vor. Es wäre konturlos und würde mit dem Raum hinter ihrem Rücken verschmelzen. In diesem Moment wäre sie wie gelähmt. Sie stellte sich vor, wie sich der Nebel rot leuchtend ausdehnen würde bis in alle Winkel des Raums, in dem die Zeit stillstände. Sie wäre gefangen in einer endlosen Schleife.

Raue Steinwände begrenzten das fensterlose Zimmer. Von der Decke fiel ein warmer Regen auf Cecilia. Ihre Tunika hatte sich mit Wasser vollgesogen, das Leinen heftete sich an ihre Haut. Sie hockte sich wieder hin. Der Dampf bildete Wolken mit sich ständig verändernden Mustern, in denen sie las. Einige Male erkannte sie Figuren in ihnen, andere Male Gesichter.

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Unterwegs zu Cecilia | Zehnter Teil

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Illustration: Valentino

Nach meiner Rückkehr ins Hotelzimmer nahm ich Seife und Handtuch. Ich betrat den Flur und passierte die Türen der anderen Zimmer. Die Dusche befand sich am Ende des Flurs. Beim Öffnen der Tür stieg mir eine Wolke Wasserdampf entgegen. Im Raum befanden sich hinter weiteren Türen mehrere Duschen.

Nachdem ich vergeblich versucht hatte, Geld bei den Banken in der Stadt abzuheben, wollte ich am nächsten Morgen über die Grenze, um es bei einer Bank in San Diego zu versuchen. Ich hatte im Restaurant Rome’s unten an der Ecke anschreiben lassen. An den Wänden des Speiseraums hingen viele Bilder mit Straßenszenen. Ein Bild zeigte den Besitzer des Restaurants, zugleich der Hotelier des Montebello, in der Küche. Ich hatte dem Kellner versprochen, am nächsten Abend wiederzukommen, um die Rechnung zu bezahlen.

Ein Geräusch weckte mich in der Nacht. Ich stieg die Treppe hinab, um nachzusehen. Im Foyer saß, mir den Rücken zugewandt, der Hotelier. Die Lampe auf dem Tisch warf ihr mattes Licht auf seine Hände, die rhythmisch einen Stapel Karten mischten. Nachdem ich die Treppe wieder hinaufgestiegen und in mein Zimmer zurückgegangen war, legte ich mich wieder ins Bett und schlief prompt ein.

(c) valentino 2021

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Unterwegs zu Cecilia | Neunter Teil

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Illustration: Valentino

Nachdem ich San Mateo verlassen hatte, fuhr ich auf direktem Weg durch die Hochebene zurück nach Huehue. Aus dem Busfenster blickte ich auf Häuser aus Adobe, Lehmziegeln, die entweder vereinzelt oder als Haufen in der nebligen Ebene auftauchten. Das trübe Tageslicht war bereits erloschen, als der Bus in der rauen Steppe bei einer Raststätte am Straßenrand hielt.

Die gezackte Silhouette der Berge zeichnete sich im milchigen Mondlicht am Horizont ab. Darüber war der Nachthimmel sternenklar. Der Gedanke an meine Rückfahrt machte mich wehmütig. Es war mir nicht klar, ob ich Narcisa jemals wiedersehen würde. Ich betrat die Raststätte. Ein Geruch nach Gebratenem füllte den Speiseraum. Zum Abendbrot gab es schwarze Bohnen, Eier und Tortillas. Nach dem Essen machten wir uns wieder auf den Weg.

Unterwegs bekam ich Fieber, das durch einen Infekt ausgelöst worden war, den ich mir in San Mateo eingefangen hatte. Als wir noch vor Sonnenaufgang in Huehue eintrafen, bereitete mir jede Bewegung Schmerzen. Nachdem ich körperlich wieder gesund war, litt mein Geist noch eine ganze Weile unter den Folgen der Erkrankung. Am späten Vormittag besorgte ich mit letzter Kraft Medikamente aus der Apotheke.

(c) valentino 2021

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Unterwegs zu Cecilia | Achter Teil

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Illustration: Valentino

Ich nahm ein gelbes Taxi an der Kreuzung Avenida Constitución und Carrillo Puerto und zahlte dem Fahrer fünf Pesos. Wir fuhren los. Auf Höhe der Zona Norte lag zwischen der Metallwand und San Ysidro, der ersten Siedlung auf der anderen Seite, ein mehrere Kilometer breiter sandiger Streifen, auf dem vereinzelt Sträucher wuchsen. Danach passierten wir eine tiefe Schlucht, dessen Hänge mit Hütten übersät waren.

In Playas stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Die Skyline von San Diego mit der Coronado-Brücke lag als spielzeuggroße Silhouette in einiger Entfernung hinter dem Grenzzaun im Dunst am Horizont. Die rostfarbene, metallene Wand ragte auf Holzpfählen dreißig Meter ins Meer. Über der Wasseroberfläche hingen kleine weiße Wolken am blauen Himmel.

Ich lief hinunter zum Strand. Irgendwo auf der anderen Seite würde sich Cecilia befinden. Doch bis Portland war es ein weiter Weg und ich müsste noch eine Nacht in Tijuana bleiben, bevor ich die Grenze überqueren würde. Mit diesem Ziel vor Augen kehrte ich auf die Promenade zurück und aß bei einem Imbiss-Wagen Garnelen-Tacos.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Siebter Teil

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Illustration: Valentino

Narcisa setzte sich an den Tisch. Während sie mir gegenüber auf dem Holzstuhl saß, erzählte sie von einem Brief, den Cecilia ihr geschrieben hatte. Aus diesem gehe hervor, sie arbeite in einem Hotel in Portland. Narcisa kramte in ihrer Tasche, holte einen Umschlag heraus und öffnete ihn. Ein Foto, das Cecilia mit anderen Hotelangestellten zeigte, lag dem Brief bei.

Damals war mir nicht klar, dass ich Narcisa auf lange Zeit nicht wiedersehen würde. Auf dem Rückweg nach Huehue fiel ich in ein Delirium, das sich als Beginn einer Blockade erwies. Nach meiner Genesung verstrich eine geraume Weile, in der ich nichts weiter tat, als meinen Gedanken nachzuhängen. Es kommt mir vor, als wäre ich Narcisa erst gestern begegnet. Zugleich scheint mir, als hätte ihr ein anderer Mensch am Tisch gegenüber gesessen.

Beim Blick aus dem Fenster bemerkte ich den hereinbrechenden Morgen. Die Sonne ging über den wolkenverhangenen Berghängen auf. Narcisa verabschiedete sich und verließ den Raum durch die Tür ins neblige Morgengrauen. Lediglich einige Krümel weißer Käse blieben auf ihrem Teller zurück.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Sechster Teil

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Illustration: Valentino

Weil wir unterwegs aufgrund der zahlreichen Militärrevisionen und des Reifenwechsels in der Sonora-Wüste Zeit verloren hatten, erreichten wir Tijuana nicht wie geplant spät abends, sondern erst am frühen Morgen des Folgetags. In der Wartehalle des zentralen Busbahnhofs standen die Leute an den Ticketschaltern, kauften in Kiosken ein oder gingen zu den Bussteigen. Ich verließ die Halle und ging zum nahegelegenen lokalen Busbahnhof.

Von dort nahm ich den nächsten Bus ins schachbrettartig angelegte Stadtzentrum und stieg dort am Straßenrand an einem hohen Bordstein aus. Ich lief die Straße mit Läden, Bars und Restaurants hinunter. Der Rucksack lastete auf meinen Schultern. Kurz vor Mittag überquerte ich eine Kreuzung und erreichte das Hotel Montebello. Ich trat durch die Tür und schritt über eine knarrende Diele in die Eingangshalle.

Der Hotelier, ein Mann mit Halbglatze, begrüßte mich an der Rezeption und gab mir den Zimmerschlüssel. Daraufhin führte er mich über eine Treppe in den ersten Stock. Ich öffnete die Tür und wir betraten das Zimmer. Ein Dealer saß auf dem Bett. Als er mich sah, stand er auf und bot mir Stoff an. Mit einer reflexartigen Geste scheuchte ihn der Hotelier hinaus.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Fünfter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Beim Aufwachen hatte ich das Zeitgefühl verloren. Ich blickte durchs Fenster des Comedors. Der Regen hatte aufgehört, als das milchige Mondlicht durch die Wolken brach. Noch immer war ich allein im Raum. Narcisa war nicht gekommen. Aus der Küche hörte ich Geräusche vom Schneiden und Zubereiten von Speisen. Eine leise Musik spielte im Radio.

Ich wusste nicht mehr, ob ich alles wirklich erlebt hatte oder ob ich bloß träumte und einer Illusion hinterherlaufen würde. Was war aus Sandy und den Mendozas geworden? Ich hatte Narcisa seit unserem letzten Zusammentreffen vor einem Jahr in Todos Santos nicht mehr gesehen. Hatte ich den weiten Weg auf mich genommen und einen halben Tag im Bus verbracht, um an diesem Abend alleine zu bleiben?

Essengerüche drangen aus der Küche. Nach dem Fest hatte sich eine seltsame Stille über das Bergdorf gelegt. Ich stellte mir vor, wie die Leute nach dem Regen nach Hause gegangen wären. Nebel stiege über den Berghängen auf. Am Hang gegenüber lägen im Mondlicht über dem Tal die Terrassen von K’atepan, der verlassenen Tempelanlage der Maya. Ich hing meinen Gedanken nach, als sich behutsam knarrend die Tür öffnete und aus der Nacht Narcisa in den Comedor Coyoteca eintrat.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Vierter Teil

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Illustration: Valentino

Die Fahrt von der Hauptstadt an die Nordgrenze dauerte zwei Tage und Nächte. In der ersten Nacht hielt der Bus an einem Militärposten. Ein Soldat weckte mich und forderte mich zum Aussteigen auf, indem er mir den Kolben seines Gewehrs in die Seite stieß. Er wies mir mit dem Licht seiner Taschenlampe den Weg durch die Dunkelheit bis in eine Halle, in der in einer beleuchteten Ecke mehre Soldaten um einem Tisch herum standen.

Auf dem Tisch lagen mein geöffneter Rucksack und verstreut dessen Inhalt. Die Soldaten hatten verdächtige Gegenstände in einem Beutel gefunden. Ich erklärte ihnen, es handele sich um mein Schweizer Taschenmesser und Hygieneartikel, woraufhin sie alles wieder einpackten. Auf dem Rückweg verlangte der Soldat für das Tragen meines Rucksacks eine Mordida, das in Mexiko übliche Schmiergeld.

Am nächsten Tag fuhr der Bus durch die Sonora-Wüste. Saguaros, die für diese Landschaft typischen baumartigen Kakteen, standen bis zum Horizont im Sand. Nachdem der Bus noch einmal angehalten hatte, stieg ein Soldat ein und überprüfte die Papiere der Fahrgäste. Als sich der Bus daraufhin wieder in Bewegung setzte, suchten wir aufgrund eines bei der Inspektion entdeckten Reifendefekts eine Werkstatt mitten in der Wüste auf.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Dritter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Damals fand gerade das jährliche Stadtfest in San Mateo statt. Ich erreichte das abgelegene Bergdorf um halb fünf Uhr nachmittags. Der Bus war um zehn Uhr morgens von Huehue abgefahren und hatte dann San Juan Ixcoy um ein Uhr mittags, Soloma um zwei und Santa Eulalia um drei Uhr nachmittags passiert. Viele Chuj, Angehörige der im Dorf lebenden Indigenen, feierten trotz des Regens auf der Straße.

Langsam brach die Dunkelheit über die Häuser herein, die sich im spärlichen Licht der untergehenden Sonne sanft an die wolkenverhangenen Hänge des Höhenzugs schmiegten. Ich hatte mir in einem höhergelegenen Bergtal ein Zimmer im Hotel San Pablo genommen und meine Sachen dort gelassen. Daraufhin war ich in den Comedor Coyoteca gegangen und hatte den Besitzer nach Narcisa gefragt. Er hatte mir gesagt, sie würde später eintreffen. Auf einem Tisch vor dem Fenster lag weißer kugelrunder Käse. Der Regen prasselte an die Scheibe.

Spät abends spielten Musiker die Marimba. Tänzer in Stierkostümen tanzten den Baile de los Toritos, den Stiertanz, auf dem Platz gegenüber der Kirche. Sie feuerten Feuerwerkskörper ab, die an ihren Kostümen befestigt waren und die kreisend Flammen schlugen oder ziellos durch die Luft flogen. Die dicht gedrängt stehenden Zuschauer waren ständig auf der Hut vor Blindgängern und wichen vor ihnen aus, wobei sie sich gegenseitig schubsten oder rempelten.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Zweiter Teil

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Illustration: Valentino

Ich saß auf einem roten Plastikstuhl in der Wartehalle im Busterminal im Norden von Mexiko-Stadt. Mein Bus in den Norden des Landes würde in drei Stunden abfahren. Die Wartezeit vertrieb ich mit Sitzen, Lesen und Herumlaufen. Ich war mir sicher, Cecilia wäre auf demselben Weg unterwegs und ich würde ihr nun auf der Spur sein. Eine Durchsage ertönte über den Lautsprecher, der Bus sei eingetroffen und man solle einsteigen.

Ich glaubte, ein Bild von Cecilia rekonstruieren zu können, wenn es mir gelänge, in meiner Vorstellung an die Orte zurückzukehren, an denen ich Narcisa begegnet war. Während unterwegs die Erinnerungen auftauchten, versiegten sie nach der Heimkehr. Beim Versuch, sie zu Hause niederzuschreiben, war mein Kopf leer und mein Schreiben blockiert. So ging viel Zeit mit Warten verloren.

Narcisa blieb seit unserer letzten Begegnung in Todos Santos verschwunden. Jedoch war ich ihr danach noch einmal wieder begegnet. Ein Jahr später reiste ich in ein benachbartes Bergdorf im Hochland Guatemalas. San Mateo Ixtatán (kurz: San Mateo) lag noch abgelegener als Todos Santos im Cuchumatanes-Gebirge. Die Busfahrt über steile Gebirgspässe und schmale Passstraßen ohne Asphalt mit tiefen nebelverhangenen Schluchten am Straßenrand dauerte mehrere Stunden.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Erster Teil

valentino

Illustration: Valentino

Narcisa und ich waren eine Station zu früh aus dem Bus ausgestiegen. Es war auch keine Station in dem Sinne, dass es dort eine Haltestelle mit Schild und Wartehäuschen gegeben hätte. Stattdessen hatte der Bus vor einem Wohnhaus am Straßenrand gehalten. Eine flache Steinmauer umgab einen Hof, auf dem im Wind Wäsche trocknete. Die vorbeifahrenden Fahrzeuge wirbelten Staub auf.

Am Nachmittag erreichten wir die Basilika. Sie lag in einem Labyrinth aus verwinkelten, kopfsteingepflasterten Gassen in Trastevere, am Ufer des Tiber. Wir gelangten durch das Tor des Eingangsgebäudes auf den Innenhof. Vor uns ragte der Kampanile in den leicht bewölkten blauen Himmel. Wasser plätscherte aus einem Springbrunnen in ein Becken mit einer großen Henkelvase. Wir schritten durch den Portikus unter dem Architrav und betraten den kühlen Innenraum.

Im Nachhinein tauchen die Bilder in meinem Bewusstsein auf: Raffaels Dame mit Einhorn in der Galleria Borghese auf dem Pincio und die Transfiguration, wie sie Wackenroder in seinen Herzensergießungen beschrieben hatte, oder Leonardos unfertiger Hieronymus in den Vatikanischen Museen. Doch keines dieser Kunstwerke sollte die vollkommene Schönheit des Werkes erreichen, das ich vor einer scheinbaren Ewigkeit in jenem lange vergessenen Sommer in der Basilika erblickte.

(c) valentino 2020

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Pakal – Auf den Spuren eines Blutherrschers | 24. Teil

valentino

Palastruine

Illustration: Valentino

Die Ebene lag wie ein Meer vor mir. Ich saß auf der Treppenstufe und erinnerte mich an die Nacht verloren im Wald, an die Tage im Hochland und an den Abend bei den Mendozas. Meine Erinnerungen begannen bereits zu verblassen. Bald würden sie vergessen sein wie die Steine der Maya unter grünen Hügeln. Später träumte ich nie wieder von Palenque, sondern vom schattigen Ufer des Usumacinta oder von meiner Ankunft in La Palma in einer lauen Nacht.

In der Pyramide stieg ich die steinernen Stufen der steilen Treppe hinab in die Grabkammer. Auf dem Sarkophag lag die Grabplatte: Die Inschrift auf ihren Seitenflächen gab die Namen der Herrscher und Daten aus dem Maya-Kalender wieder, ihre Oberseite zeigte den Lebensbaum der Maya. Darunter war Pakal abgebildet bei seinem Übergang nach Xibalbá, der Unterwelt. Nachdem er sie durchwandert haben würde, sollte er im Schutz der Sonnenhieroglyphe am östlichen Horizont wieder auferstehen.

Ich schlenderte auf ausgetretenen Pfaden zwischen den Gebäuden und suchte in der Nachmittagshitze Schatten unter einem Baum. Als die Sonne kurz hinter einer Wolke verschwunden war, bemerkte ich zwei Pinien bei der Palastruine. Ich stellte mir vor, ein Holzpfahl stünde auf dem Platz davor. Dort angekommen würde ich auf eine erloschene Feuerstelle stoßen und mich niederhocken, um mit einem Stock zwischen verkohlten Holzresten in der kalten Asche zu stochern. Da fiele mir ein durchtrenntes Seil auf, das auf der Erde läge. – E N D E –

(c) valentino 2018

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Pakal – Auf den Spuren eines Blutherrschers | 23. Teil

valentino

Usumacinta

Illustration: Valentino

Am nächsten Morgen erreichte ich Tenosique mit dem Fahrrad. Ich hatte bloß noch ein paar Peso in der Tasche. Weil es Sonntag war und alle Banken geschlossen hatten und weil die Automaten meine Kreditkarte verweigerten, gab ich das restliche Geld für Wasser und ein kleines Frühstück aus. Daraufhin radelte ich auf der asphaltierten Straße Richtung Palenque. Nachdem ich eine Abzweigung verpasst hatte, fuhr ich einen Umweg über Emiliano Zapata am Usumacinta.

Unterwegs rastete ich bei einer Gaststätte. Der Wirt gab mir ein Stück Wassermelone und kaufte eine meiner beiden Hängematten. Vom Erlös aß ich abends in Palenque in einem Restaurant Mojarra, ein mit dem Barsch verwandter und bei den Einheimischen beliebter Speisefisch. Ein Hausbewohner beherbergte mich daraufhin in seinem Garten. Ich spannte meine Hängematte auf und schlief erschöpft ein. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich mit Mückenstichen übersät. Ich packte meine Sachen, fuhr ins Zentrum, hob dort Geld bei einer Bank ab und nahm ein Zimmer in der Nähe des Parks.

Frisch geduscht fuhr ich mit dem Fahrrad die letzten sechseinhalb Kilometer zu den Ruinen der ehemaligen Maya-Stadt, die ihre Blüte um 700 entfaltete. Die archäologische Fundstätte lag auf einer Terrasse zerklüfteter, bewaldeter Hügel am Rande des Hochlands von Chiapas. Vor mir stand der Tempel der Inschriften auf der obersten Plattform einer Pyramide. Ich stieg die Treppe hinauf, setzte mich auf eine Stufe und blickte auf die Palastruine mit dem vierstöckigen Turm. Dahinter erstreckte sich ein weites Tiefland bis zum Horizont nach Norden.

(c) valentino 2018

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Pakal – Auf den Spuren eines Blutherrschers | 22. Teil

valentino

Sonnenuntergang

Illustration: Valentino

Der Arbeiter aus Propetén und der elfjährige Junge aus Paso Caballos brachten mich am nächsten Morgen zu der Stelle am Flussufer, an der ich übernachtet hatte. Ich hatte dem Arbeiter verschwiegen, dass ich dem Vater des Jungen Geld für die Überfahrt gegeben hatte. Doch nun befürchtete ich, dass der Junge es ihm erzählen würde, was er jedoch nicht tat. Abgeknickte Äste lagen auf dem Boden – und eine leere Schachtel, die ich nachts dort liegen gelassen hatte.

Auf dem Rückweg traf ich in einem Dorf zwei Männer, die mich auf ihrem Pick-up nach Flores mitnahmen. Der Ort lag auf einer kleinen Insel im See Petén Itzá und war über einen Damm mit dem Festland verbunden. Ich spazierte durch die engen Gassen mit ihren Läden, Hotels und Restaurants. Zwar hatte ich mein Vorhaben aufgegeben, El Naranjo auf dem Wasserweg zu erreichen. Allerdings war ich weiter gekommen, als ich in der Nacht im Wald gedacht hatte. Von der Insel aus beobachtete ich den orangefarbenen Sonnenuntergang.

Der Bus rollte über eine staubige Straße durch eine öde, palmenbestandene Landschaft. Manchmal hielten wir in kleinen Dörfern. Einheimische stiegen zu. Die Männer trugen Hüte, Hemden, abgetragene Jeans und Stiefel, die Frauen Strickjacken, bunte Kleider und Schuhe mit abgelaufenen Sohlen, die Kinder liefen barfuß. In El Naranjo stempelten Beamte die Pässe. Wir schifften den San Pedro hinab und passierten auf halber Strecke die Grenze. Vom Bootsanleger gingen wir ein Stückchen zu Fuß zur Passkontrolle. Als in der hereinbrechenden Nacht die Lichter von La Palma vor einer Brücke am Ufer auftauchten, wehte eine Brise und es spielte Musik.

(c) valentino 2018

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Pakal – Auf den Spuren eines Blutherrschers | 21. Teil

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Paso Caballos

Illustration: Valentino

Das Tageslicht durchbrach den Nebel. Ein Hahn krähte, Schweine grunzten. Die Dorfbewohner waren während des Bürgerkriegs aus der Region am Fluss Chixoy nach Paso Caballos gekommen. Einer der beiden Männer, die mich mitgenommen hatten, sagte mir, wegen der Karwoche gebe es keine Boote nach El Naranjo, und eine Expressfahrt sei zu teuer. Deshalb wollten er und sein elfjähriger Sohn mich nach Propetén bringen. Fünfzehn Kilometer flussabwärts würde ich möglicherweise mehr Glück haben, ein Boot zu chartern.

Wir aßen Tamales und tranken Kaffee. Plötzlich quiekte eines der Ferkel. Die Männer liefen zum Fluss und befreiten das Tier, das sich mit einer Pfote in einer Leine verwickelt hatte. Da fiel mir ein, dass ich die Seile, mit denen ich meine Hängematte in den Bäumen befestigt hatte, im Morgengrauen beim Nachtlager vergessen hatte. Wir stiegen ins Boot und fuhren zum Lager. Dort angekommen sammelte ich die Seile ein. Auf der Fahrt nach Propetén scheuchte der Motorenlärm zahlreiche Vögel aus dem Uferdickicht auf.

Propetén war über den Wasserweg verbunden mit El Perú, eine nahegelegene Maya-Ruine. Ein Arbeiter und ich trugen Schilfbündel aus einem Kanu und deckten die Dächer der Häuser. Abends brachten zwei Fischer ihren Fang, den wir gemeinsam aßen. Sie sagten mir, gewöhnlich würden Fischer aus El Naranjo, nachdem sie flussaufwärts Mais eingekauft hatten, auf ihrem Rückweg Passagiere in ihren Heimatort mitnehmen. Weil jedoch während meines Aufenthalts niemand vorbeikam, entschied ich mich für die Rückkehr nach Flores auf dem Landweg.

(c) valentino 2018

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