Lesung „Sitte und Sittlichkeit im ausgegangenen Jahrhundert“ (Pop Verlag)

Nachwort von Cristina Beretta:

Und Du sollst ein Gott sein
nach unserem Maße also?

Er musste getötet werden
Es ging nicht anders …

Gewiss ist nur, dass alles,
Alles verkehrt ist!
Gott, was heißt es!

Also beginnen wir
Von vorne wieder.

David Maria Turoldo (1987)

Der Gott, den der italienische Dichtertheologe David Maria Turoldo zur Rechenschaft zieht, hat einen großen Fehler begangen. Er hat den Tod seines eigenen Sohnes gefordert. Der humanistischen Denkweise des aufgeklärten Abendlandes zufolge stimmt etwas nicht. Die Geschichte soll neu geschrieben werden, jedoch ohne Fehler, auf dass die Theodizeefrage sich erübrige. Der Fehler kann ja nicht das Maß sein, nach dem Gott und sein Abbild gefertigt sind!

Von vielen Ausprägungen dieses ,Fehlers‘ berichtet der Schreiber von Sitte und Sittlichkeit im ausgegangenen Jahrhundert. Von einem Protagonisten im eigentlichen Sinne kann keine Rede sein, denn ágon, der Kampf, ist nicht sein Los. Nicht das Schwert sondern die Feder ist sein Attribut. Er hat Gott herausgefordert, sich ihm zu erkennen zu geben. Diese Hybris bestraft Gott, indem er ihn nach eisernem Talionsgesetz zur Erkenntnis von Gut und Böse verdammt, allerdings mit einer einschränkenden Klausel: Der geistgewordene Mensch darf Gott durch dessen Werk – die Welt – erkennen, in das Weltgeschehen darf er indes nicht eingreifen, denn er soll nur Zeugnis ablegen. Der Sündenfall kollidiert mit der Geburt des geschriebenen Wortes.

Der geistgewordene Mensch sieht und berichtet von Erschießung, Ermordung und Vernichtung. Unergründliche, grundlose Gewalt. Eine vertraute condition humaine unseres beginnenden 21. Jahrhunderts: Der homo observans mit Fernbedienung und Maus in der Hand erfährt zeitgleich, was in der Welt geschieht, und ist in Sekundenschnelle informiert, zuweilen sogar besser als die Involvierten selbst. Er ist überzeugt, dass er wissen muss. Wissen ist Macht und die Erkenntnis geht der Handlung voraus – dies besagt die abendländische sokratische Tradition. Der moderne Mensch erlebt durch Zuschauen. Die Authentizität ergibt sich aus der Zuschauerperspektive eines Außenstehenden mit einer Videokamera in der Hand.

Der Schreiber von Sitte und Sittlichkeit sieht jedoch mehr als den Tanzplatz des Todes. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen offenbart sich ihm als Simultaneität von Hölle, Fegefeuer und Paradies. Anders als in Dantes Divina Commedia sind diese Sphären hier nicht hierarchisch geordnet, von Wächtern streng bewacht und strikt getrennt. Die Schönheit der Natur, das beschauliche Landleben, die Fähigkeit der Menschen zur uneigennützigen Liebe sind Inseln des Guten. Oder sind sie etwa das notwendige Substrat des Bösen? Dieser Gleichzeitigkeit ist mit der Idylle und zugleich einer Ästhetik des Schreckens nachzukommen.

Anders als der zu einem ähnlichen Los verurteilte Seemann aus Samuel Taylor Coleridges The Rime of the Ancient Mariner (1797/1798) bietet der Schreiber von Sitte und Sittlichkeit keine Antworten an. Er berichtet lediglich. Seine Sprache ist kraftvoll, hyperbolisch und dennoch in einer festen Metrik gebändigt, die das Schöne und das Gute vor dem Angenehmen bewahrt und das Grausame in erschreckender Genauigkeit einzufangen weiß. Doch der ununterbrochen vorwärts treibende Rhythmus der Trochäen duldet keine Rast. Unermüdlich Zeuge sein ist das Los des geistgewordenen Menschen.

Anfangs zeigt sich Gott in persona als der mächtige, strafende, zornige, eitle und vernichtende Gott des Alten Testaments. Ein nahbarer Gott, den man unmittelbar ansprechen kann. Ein naher Gott, da ihn diese Attribute menschlich erscheinen lassen. Durch seine Taten, durch die Welt, scheint Gott sich eher als coincidentia oppositorum zu offenbaren.

Erkennt der geistgewordene Mensch einen allzumenschlichen oder einen unergründlichen Gott? Sind dieser und sein Werk in einem amor fati zu bejahen? Gilt die Grausamkeit auf Erden etwa als Beweis eines furchterregenden, jähzornigen Gottes? Und noch: Was hat es mit dem Wissen der letzten Dinge auf sich? Macht die Erkenntnis den Menschen nur ohnmächtig statt allmächtig, wie es im ausgegangenen Jahrhundert Jorge Luis Borges in seinem Aleph-Zyklus (1944-1952) vielleicht am prägnantesten gezeigt hat? Dem Leser die Entscheidung.

Der Schreiber erzählt eine vertraute Geschichte, aber er erzählt sie neu, mit der erbarmungslosen Präzision des unmittelbaren Zuschauers, der Beharrlichkeit einer verzweifelnden Ohnmacht und der unermüdlichen Kraft eines ursprünglichen Staunens. Ist nun alles verkehrt, wie der Autor des zu Beginn zitierten Gedichts konsterniert ruft? Ist überhaupt die Rede vom gleichen Gott?

Also beginnen wir die Lektüre von vorne wieder.

(c) Pop Verlag, Ludwigsburg, 2008