„Die Sterbenden gehen oft abends oder nachts, wenn der Tag zur Ruhe kommt und es rundherum still wird.“ – Ein Gespräch mit der Autorin und Übersetzerin Barbara Imgrund | Teil 2 von 2

Fortsetzung (zurück zu Teil 1 des Gespräches)

Vnicornis:
Welche Verbindungen ziehst Du zwischen der Hospizarbeit und Deinem Schreiben?

Barbara Imgrund:
Das ist keine ganz leichte Frage, da spielt so viel mit herein. Zum einen erdet mich die Hospizarbeit für das, was zählt. Wenn ich mal aus dem Nähkästchen plaudern darf: Ich bin keine Autorin, die sich und ihre Bücher gut vermarkten kann, weil mir das Klappern, die Selbst-PR einfach nicht liegt. Ich hadere schon damit, wenn ich sehe, dass andere das viel besser draufhaben und damit mehr Aufmerksamkeit für ihre Bücher erzielen. Aber dann gehe ich ins Heim oder in die Klinik und komme ebenso glücklich wie ganz klein mit Hut wieder raus – weil mir gerade noch rechtzeitig wieder eingefallen ist, dass etwas anderes wirklich wichtig ist. Und dass ich mir hin und wieder einfach selbst verzeihen muss.

Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen

Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen

Demut, Respekt und Empathie sind jedenfalls Qualitäten, auf die mich meine Ehrenämter immer wieder stoßen – und rein zufällig kann man sie auch fürs Schreiben ganz gut gebrauchen. Sie schärfen den Blick für glaubwürdige Charaktere und Situationen. Als Hospizbegleiter wie als Schriftsteller musst du dich zurücknehmen und ganz auf die Person dir gegenüber, auf deine Figur einlassen können. Was braucht sie von dir und was nicht? Wo musst du eingreifen und lenken, wo musst du die Traute haben loszulassen, damit sich etwas aus sich selbst heraus entwickeln kann? Man mag es nicht glauben, aber Hospizarbeit erfordert eine gute Portion Kreativität. Den Mut dazu hat mir das Schreiben beigebracht.

Vnicornis:
Wie ist dieses Eingreifen und Lenken und dann das Loslassen in der Arbeit an Deinem jüngsten Buch Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen konkret sichtbar geworden?

Barbara Imgrund:
Zunächst einmal hoffe ich, dass es eben nicht sichtbar ist. Aber am Plot hätte ich mir beinahe die Zähne ausgebissen. Ich hatte das Buch einige Jahre zuvor in einer ersten Fassung geschrieben, die absolut nicht funktionierte, und es frustriert in der Schublade verschwinden lassen. Normalerweise skizziere ich ein Storyboard, bevor ich mit der Niederschrift beginne – das hatte ich hier nicht getan, warum auch immer. Entsprechend las es sich: wirr, die Geschichte wusste einfach nicht, wohin sie wollte. Aber die Figuren und die skurrilen Szenen auf dem Friedhof waren mir doch ans Herz gewachsen, und so beschloss ich, dass wir alle es noch einmal miteinander versuchen sollten. Das war haarig, denn ich fand lange den Dreh nicht, den ich brauchte, damit es rund werden konnte. Endlich kam mir doch noch die Erleuchtung, und dank ihr geht die Geschichte jetzt auf.

Dieses Buch aus versprengten Versatzstücken der ersten Version neu zu verfassen, war das Schwierigste, was ich bisher an Schreibarbeit geleistet habe – eben weil ich die Geschichte um bereits bestehende Szenen herum ganz gezielt neu orchestrieren musste.

Loslassen wiederum war bei Marie angesagt, meiner Heldin. Sie wollte zu Beginn des Buches absolut nicht so werden, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie sagte und tat Dinge, die nicht meins waren: Während sie heimlich, still und leise innerlich zusammenbrach, war sie nach außen hin hart wie ein Stein, stieß ihren Mann vor den Kopf – der ja auch diesen fürchterlichen Kummer hatte – und suhlte sich im Selbstmitleid. Verstehen konnte ich sie, denn sie hatte ja eben ein totes Kind zur Welt gebracht – sie war mir nur einfach nicht sympathisch. Ich versuchte also, sie so zu schreiben, dass ich sie von Anfang an mögen konnte, aber es hat sich nicht richtig angefühlt. Als ich merkte, dass Marie partout ihr Eigenleben behalten wollte, habe ich es zugelassen – und am Ende gemerkt, dass ich mir keinen größeren Gefallen hätte tun können. Sie hatte Luft, sich zu entwickeln, und alles fügte sich zusammen. Am Ende waren wir dann wieder die besten Freundinnen.

Vnicornis:
Inwieweit hilft das Sich-selbst-Zurücknehmen und Auf-den-Anderen-Einlassen, das Du in der Hospizarbeit erlebst, auch Deiner Lektoratsarbeit?

Barbara Imgrund:
Es hilft bei jeder Zeile. Als Lektorin habe ich das Buch einer anderen Person vor mir, nicht meines. Es ist nicht mein Eigentum, es ist mir nur geliehen. Davor darf ich nicht den Respekt verlieren. Natürlich bin ich dem Verlag verpflichtet, der mir den Auftrag erteilt hat, dieses Buch zu redigieren und satzreif zu machen – das heißt, ich muss die Kriterien dieses Verlags im Auge behalten. Da ich auf Sachbücher spezialisiert bin, sind das vor allem Zielgruppenansprache, Aufbau, Inhalt, Anspruch, Sprache, Orthografie, Interpunktion. Aber ich darf andererseits dem Buch meinen Stempel nicht aufdrücken und muss dafür Sorge tragen, dass Sprach- und Schreibduktus des Autors erhalten bleiben, egal, wie viel ich eingreifen oder umschreiben muss. Denn es steht ja sein Name auf dem Cover.

Meistens geht das gut. Ich hatte aber auch schon Autoren, die sich durch meine Korrekturen persönlich angegriffen fühlten und meinten, ich würde ihr Buch „kaputtredigieren“ … Solche Verwerfungen gibt es übrigens auch in der Hospizarbeit. In einem Fall habe ich ernstlich überlegt, die Begleitung abzubrechen, da mein Gegenüber keinerlei Verbindlichkeit einzugehen bereit war, sich nicht an Verabredungen hielt, die Gespräche mit mir aber auch nicht missen wollte. Nach intensiver Beratung mit meinen beiden Koordinatorinnen entschloss ich mich doch zum Weitermachen. Ich war dann auch bei meinem Schützling, als er wenig später im Hospiz verstorben ist. Und so salopp es klingt: Wir waren beide heilfroh darüber, dass ich ihn nicht habe hängen lassen.

Barbara Imgrund und Mali

Barbara Imgrund und Mali / Foto: Barbara Imgrund

Vnicornis:
Wie geht es Deiner Hündin Mali?

Barbara Imgrund:
Mali geht es gut – danke der Nachfrage, die wirklich nicht ganz unberechtigt ist. Als ehemalige Straßenhündin ist Mali unglaublich sensibel, und Stress oder Angst übersetzen sich bei ihr sofort in körperliche Beschwerden. Dann treiben uns ihre Bauchschmerzen und Koliken nächtelang um die Häuser.

Mali bedeutet übrigens „Reichtum“ auf Suaheli – ich habe eine starke Verbindung nach Afrika und wollte, dass mein Hund einen entsprechenden Namen bekommt. Und Mali ist tatsächlich ein Schatz. Ihrer Empfindsamkeit, von der ich eben sprach, ist es nämlich zu verdanken, dass sie ganz zart und vorsichtig mit den Menschen umgeht, die wir ehrenamtlich besuchen. Spätestens wenn ich im Einsatz dann noch erzähle, dass Mali von der Straße kommt, fällt die letzte Bastion. Denn der Mensch uns gegenüber realisiert: Das Schicksal hat ja nicht nur bei ihm zugeschlagen – sondern auch bei diesem Hund.

Das Gespräch führte belmonte.

(c) belmonte 2019

„Die Sterbenden gehen oft abends oder nachts, wenn der Tag zur Ruhe kommt und es rundherum still wird.“ – Ein Gespräch mit der Autorin und Übersetzerin Barbara Imgrund | Teil 1 von 2

Barbara Imgrund, in Landshut/Niederbayern geboren und im Allgäu aufgewachsen, lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Heidelberg. Sie arbeitete für zahlreiche renommierte Verlage als Lektorin und ist u. a. Mitglied im texttreff – Netzwerk wortstarker Frauen (http://www.texttreff.de). Barbara Imgrund engagiert sich in der Hospizarbeit, im Besuchshundedienst und international im Tierschutz. Viele ihrer Erfahrungen fanden Eingang in ihre Werke. Zuletzt erschien 2017 ihr Buch Das Glück des Schmetterlings beim Fliegen. Derzeit schreibt sie an einem neuen Roman. Für mehr Information siehe Barbara Imgrunds Autorinnen-Website.

Barbara Imgrund

Barbara Imgrund / Foto: Barbara Imgrund

Vnicornis:
Barbara, Du engagierst Dich seit Jahren ehrenamtlich in der Hospizarbeit. Was bedeutet diese Tätigkeit für Dich?

Barbara Imgrund:
Um gleich mal das große Besteck auszupacken: Sie bedeutet Erfüllung und Sinn für mich. Ich kann es nicht anders sagen, so ist es eben. Wenn ich bei einem alten, schwerstkranken oder sterbenden Menschen sitze und ihm ein bisschen Last nehmen oder Freude bringen kann – und sei es nur für fünf Minuten –, dann ist das ein Geschenk. Jackpot! Dann weiß ich, dass ich in diesem Moment nirgendwo anders sein will, weil ich ja schon am richtigen Platz bin.

Die Hospizarbeit schließt Kammern in mir auf, in die ich sonst nicht vordringe, was ich übrigens für mein Schreiben gut gebrauchen kann. Denn ich als Mensch entwickle mich dabei ja auch weiter. Es ist sozusagen eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten und wiegt doppelt und dreifach die Zeit, Energie und manchmal auch Nerven auf, die ich durchaus in dieses Ehrenamt investiere.

Vnicornis:
Kannst Du mit unseren Lesern ein paar Deiner Hospizerfahrungen teilen?

Barbara Imgrund:
Vorausgeschickt sei, dass Hospizarbeit nicht nur in einem Hospiz stattfinden muss. Ich zum Beispiel bin in einem Heidelberger Pflegeheim tätig, wo ich nicht nur Sterbende begleite, sondern auch Menschen, die noch rüstig sind, aber eben Ansprache brauchen. Mitnehmen in den Einsatz darf ich auch meine Hündin Mali – wir sind als Besuchshundeteam ausgebildet und besuchen sowohl Senioren als auch Patienten auf der Palliativstation der Heidelberger Thoraxklinik.

Zudem kommt seit einigen Wochen ein fünfjähriges, schwerstbehindertes Mädchen aus der Nachbarschaft zu uns nach Hause. Die Kleine wird voraussichtlich niemals selbstständig laufen, niemals sprechen, niemals sich gezielt mitteilen können. Und doch, es ist atemberaubend, wie schnell sich eine Kommunikation und Bindung zwischen ihr, Mali und mir entwickelt hat. Kind und Hund – der als ehemaliger Straßenhund ebenfalls sein Päckchen zu tragen hat – gehen rührend neugierig und achtsam miteinander um, ich kanalisiere und moderiere ein bisschen und lasse ansonsten laufen, was laufen will.

Heute zum Beispiel war die Kleine zum ersten Mal allein bei uns – ihre Mutter hat draußen mit der Schwester gespielt –, und es war sofort, als wäre es nie anders gewesen. Die Kleine hat mir vertraut, einfach so, und sich sofort auf Mali und mich eingelassen, ohne Mama nachzuweinen. Dann hat sie das Glas mit den Leckerlis hochgehoben, obwohl sie eigentlich nicht greifen kann, und sogar von sich aus Körperkontakt zu Mali gesucht und ihre Pfote festgehalten. Wow. Nach solchen Begegnungen schweben wir alle für den Rest des Tages auf Wolke sieben herum.

Aber auch meine erste Sterbebegleitung hat mich sehr bewegt. Ich hatte die uralte, im Endstadium demente Dame, Frau B., schon fünfeinhalb Monate engmaschig besucht, als an einem Montagmorgen der Anruf aus dem Heim kam: Es gehe wohl zu Ende. Ich fuhr gleich hin, konnte aber nicht viel für sie tun, außer sie durch Körperkontakt spüren lassen, dass sie nicht allein ist, ihr vorsingen und vorlesen. Dann zeigte mir eine Schwester, wo Frau B.s Fotoalben lagen, und ich begann darin zu blättern. Es war, als würde ich eine Reise durch ihr Leben antreten, während sie selbst sich schon auf eine andere, letzte Reise aufgemacht hatte. Da sich im Heim nie jemand von der Familie hatte blicken lassen, wollte wenigstens ich dieses lange Leben, das da gerade zu Ende ging, würdigen und es noch einmal Revue passieren lassen … Mittags musste ich wegen eines Termins weg, aber ich war mir sicher, dass es ohnehin noch dauern würde. Die Sterbenden gehen oft abends oder nachts, wenn der Tag zur Ruhe kommt und es rundherum still wird.

Als ich gegen halb sechs Uhr abends zurückkehrte, saß eine Angehörige an Frau B.s Bett. Deren Atmung war unverändert kräftig und regelmäßig. Da also seit vielen Stunden nichts so recht vorwärts gegangen war, sagte ich zu der alten Dame: „Wir sind alle da, du kannst jetzt jederzeit gehen, wenn du möchtest.“ Manchmal hilft dem Sterbenden diese Art „Erlaubnis“ beim Loslassen. Und wirklich, als hätte Frau B. es verstanden – was aufgrund ihrer massiven Schwerhörigkeit zumindest auf akustischem Wege unmöglich war –, wurde ihre Atmung binnen weniger Minuten flach und es entstanden immer längere Pausen zwischen den einzelnen Atemzügen. To make a long story short: Keine Viertelstunde nach meiner Rückkehr hatte es die alte Dame endlich geschafft.

Zufall oder Zusammenhang? Das mag jeder für sich selbst entscheiden, je nachdem, was er glauben kann. Ich kann inzwischen so manches zwischen Himmel und Erde glauben und hoffe für mein Teil einfach, dass ich vielleicht eine Atmosphäre der Geborgenheit oder Sicherheit schaffen und Frau B. damit womöglich den „Absprung“ erleichtern konnte. Ich kann die Sterbenden ohnehin nur bis an die Schwelle begleiten. Den letzten Schritt müssen sie allein tun.

Das Gespräch führte belmonte.

(c) belmonte 2019

Teil 2 des Gespräches