belmonte
Liebe Michaela,
vielen Dank für Deine Antwort auf meine Auslassungen über digitale Briefkultur.
Du hast genau das gemacht, was ich erhofft habe, und hast als mein Peer (nämlich meine Dichterkollegin) meinen Brief einem Review unterzogen, hast meine Gedanken und hast mich als den Anderen ernstgenommen, hast Dir Zeit genommen und meine Überlegungen an Deinen eigenen Erfahrungen reflektiert, Deiner Antwort die nötige Tiefe und mir die Möglichkeit des mehrfachen, vertiefenden Lesens gegeben. Wer weiß, wie lange dieses Experiment einer digitalen Briefkultur andauert, aber ein hoffnungsvoller Anfang ist gemacht.
Mir kommt vieles aus Deinem Brief sehr bekannt vor. Die Masse der Gedanken überflutet Deine Notizbücher? Das kenne ich nur zu gut. Mit unserem vnicornis-Blog habe ich zumindest die Möglichkeit gefunden, einige Gedanken aus der Flut wie mit einem Kescher herauszufischen, aufzuschneiden und zu säubern und auf unserem Blog zum Verzehr anzubieten. Bei meinen Überlegungen zur digitalen Briefkultur bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es sich nicht etwa um Fisch aus der Zuchtanlage handelt.
Ich habe früher sehr viele Briefe geschrieben. Dann kam das Internet, E-Mail, Chats, Foren, Blogs, Social Media, Streaming. Und natürlich habe ich jede Stufe der Digitalisierung mit offenen Armen angenommen. Auf einmal war das Briefeschreiben wie weggewischt.
Den einzigen Schritt in der Digitalisierung, den ich – ganz bewusst – nicht mitgemacht habe, sind die Messenger-Systeme. Den Facebook-Messenger hatte ich weniger als 24 Stunden auf meinem Gerät. Womöglich war das genau der Punkt, an dem ich innegehalten und mir gesagt habe: Moment mal, was machst Du hier eigentlich? Übergibst Du wirklich Dein Schreiben dem Fleischwolf und heraus kommt nur noch Hackepetersprache?
Die Digitalisierung ist ein Fakt. Ich sehe viele ihrer Risiken, immer noch überwiegen für mich aber ihre Chancen. Dennoch möchte ich mich nicht damit abfinden, dass Dinge, die mir einmal wichtig waren und deren Wert ich nach wie vor schätze, einfach so verschwinden, obwohl sie aus meiner Sicht auch für die Zukunft einigen Wert bereitzuhalten im Stande sind.
Die strukturelle Analogie zwischen Briefkultur und wissenschaftlichem Peer-Review bietet eine Chance, Briefkultur in digitaler Form nicht bloß zu erhalten sondern neu auszuprobieren, nämlich Briefeschreiben und digitale Kommunikation miteinander zu verbinden als ein freundschaftliches, wohlwollendes und wertschätzendes gegenseitiges Erörtern und Abwägen – in der Öffentlichkeit des Internets, als Einladung auch an Dritte, in diese offene Form der digitalen Briefkultur einzusteigen.
Und wenn man in die Wissenschaftsgeschichte blickt, sind die ersten Formen dessen, was wir heute Peer-Review nennen, nichts anderes als eben Briefe. Demnach deutet sich die Analogie bereits im Ursprung an.
Vielleicht kommen wir ja über eine digitale Briefkultur auch wieder in Kontakt mit „alten, fast vergessenen Bekannten“. Dann bliebe auch dieses Phänomen des Nach-langer-Zeit-wieder-in Kontakt-Kommens nicht nur eine Domäne von Facebook und Co.
Sei herzlich gegrüßt,
belmonte