Hanau
Von Volker Schönenberger, Betreiber unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte“
Dokudrama // Beim Terroranschlag in Hanau am 19. Februar 2020 erschießt ein 43-jähriger Einwohner der hessischen Stadt innerhalb einer Viertelstunde neun Menschen, allesamt mit Migrationshintergrund. Anschließend fährt er in seine Wohnung im Ortsteil Kesselstadt und erschießt dort erst seine Mutter und anschließend sich selbst.
Offener Brief der Stadt Hanau an Uwe Boll
Als bereits ein Jahr später bekannt wird, dass der umstrittene deutsche Independent-Regisseur Uwe Boll die Ereignisse verfilmen will, regt sich umgehend Widerstand. So veröffentlicht die mainaufwärts in der Nähe von Frankfurt gelegene Stadt Hanau im März 2021 einen offenen Brief, gezeichnet unter anderem vom Oberbürgermeister Claus Kaminsky, Stadtverordneten und den Familien der Opfer. Darin verleihen diese ihrem Entsetzen über Bolls Pläne Ausdruck und fordern ihn inständig auf, sein Vorhaben nicht in die Tat umzusetzen. Wer den streitbaren Filmemacher kennt, ahnt: Das wird ihn nicht davon abhalten, sondern womöglich erst recht motivieren. Und so kommt es dann auch, Boll dreht „Hanau“ im März 2021 in Mainz. Einen Kinostart bekommt das Werk nicht spendiert, das verbindet es mit vielen Regiearbeiten Uwe Bolls. Es bleibt spekulativ, ob sich kein Filmverleih und keine Kinokette so kurz nach dem Terrorakt daran die Finger verbrennen will. Ebenso weiß ich nicht, ob Boll über seine BOLU Filmproduktion und -verleih GmbH versucht hat, für die Heimkinovermarktung von „Hanau“ einen größeren Publisher zu finden als das kleine Label Tiberius Film, das es nun geworden ist.
Zu Beginn von „Hanau“ informiert eine Texteinblendung uns darüber, dass es sich bei den Worten des Täters meist um seine eigenen handelt. Er habe ein Manifest geschrieben und diverse Beiträge in den Sozialen Medien veröffentlicht. Er sei der erste Qanon-Massenmörder. Eine weitere Einblendung betont, der Film zeige Uwe Bolls Interpretation des Massakers – durchaus ungewöhnlich, seinem Film eine solche Banalität voranzustellen.
Kruder Gruß an den „Hohen Germanischen Rat“
Die ersten Bilder zeigen deutsche und englische Fernsehnachrichtenmeldungen über die Bluttat. Im Anschluss hält der Täter Tobias R. (Steffen Mennekes) eine Rede an den „Hohen Germanischen Rat“ in die Kamera, mit der er seine krude Haltung zum Besten gibt (womöglich aus besagtem Manifest entnommen). Er endet mit einem zackigen Viva Germania! Wir sehen ihn daheim, beim Schusstraining, im Auto, ständig vor sich hin monologisierend. Am Tag der Tat sieht er sich mittags in der Innenstadt um und kehrt dann nach Hause zurück. Um 20:48 Uhr besteigt er sein Auto und fährt erneut in die Innenstadt. Um 21:50 Uhr erreicht er die Shishabar „Midnight“, betritt sie und erschießt diverse Anwesende.
Mit dem Selbstmord des Massenmörders endet die Spielhandlung von „Hanau“ bereits nach einer Stunde. Es folgen weitere Nachrichtenbilder, die einige weltweite rechtsgerichtete Umtriebe illustrieren, unter anderem mit Donald Trump und Björn Höcke, bevor sich Uwe Boll für den Rest der Laufzeit selbst inszeniert, wie er in Hanau die Orte des Geschehens aufsucht und kommentiert. Seine Regiearbeit endet mit einer erschreckend langen Liste „Erfasste Opfer rechtsradikaler Gewalt in Deutschland seit 1990“ (gemeint sind Todesopfer).
Konsequenter Fokus auf den Täter
„Hanau“ bleibt in der Spielhandlung konsequent beim Täter und zeigt die Opfer lediglich während der Morde, zeigt sie kurz beim Sterben. Boll ging es erkennbar darum, seinem Publikum die krude Weltsicht des Rechtsterroristen zu präsentieren und zu vermitteln, wie eine Mischung aus Rassismus, Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn zu einer derart entsetzlichen Tat führen kann. Dabei bleibt der Regisseur jederzeit im Hier und Jetzt, die sicher Jahre währende Entwicklung dieses Weltbilds im Kopf des Mörders klammert er aus; sie darzustellen, hätte wohl auch den zeitlichen Rahmen gesprengt und wäre zudem arg spekulativ ausgefallen, erst recht so kurz nach den Ereignissen.
Die Szenen mit dem monologisierenden Täter wirken auf mich befremdlich. Liegt es am mangelnden Vermögen des Schauspielers Steffen Mennekes, den Boll gern bucht, oder gar an unsauberer Schauspielerführung durch den Regisseur? Was die Figur da allerdings an rassistischem und verschwörungstheoretischem Unfug von sich gibt, IST befremdlich. Die Art und Weise, wie Mennekes das vorträgt, passt somit vorzüglich und ist stimmig. Ob der Täter tatsächlich derartige Monologe – wahlweise Selbstgespräche – geführt hat, ist unerheblich, als Element zur Vermittlung dieser Gedankenwelt ist das ein legitimes Stilmittel.
Make-up-Effekte von Olaf Ittenbach
Boll inszeniert das Geschehen betont kühl, um einen dokumentarischen Charakter zu erhalten. Bei den Morden geht er darüber allerdings hinaus, diese fallen drastisch und atemstockend aus. Für die Make-up-Effekte hat sich der Regisseur, der wie üblich auch als Produzent agierte, die Dienste des deutschen Independent-Splatterfilmers Olaf Ittenbach („Premutos – Der gefallene Engel“, „Legion of the Dead“) gesichert, der diese Aufgabe bereits bei den Boll-Arbeiten „Blood Rayne“ (2005), „Seed“ (2006) und „Tunnel Rats – Abstieg in die Hölle“ (2008) übernommen hatte. Die drastische Darstellung von Gewalt und ihren Folgen hat für mich in Filmen ihre Berechtigung, in diesem Fall konterkariert sie meines Erachtens aber die aufklärerische Intention, da sie „Hanau“ einen exploitativen Beigeschmack gibt. Es ist eben doch einen Tick zu viel, wenn ein Toter mit Kopfschusswunde gezeigt wird, neben dessen Kopf Schädelknochen und Hirnmasse auf dem Boden verteilt sind. Hier konnte – oder wollte – Boll offenbar nicht aus seiner Haut. Andererseits sind das kurze Momente, andere mögen das vielleicht sogar als zurückhaltend inszeniert interpretieren.
Keine Frage: Sein Anliegen, vor den Gefahren zu warnen, die in manchen Bevölkerungsgruppen mit rechter Schlagseite in Deutschland (und weltweit) seit Jahren heranwachsen, ist ehrenwert und berechtigt. Ich halte Uwe Boll in der Hinsicht auch für glaubwürdig. „Hanau“ ist zudem weit davon entfernt, als völlig missratenes Machwerk diskreditiert zu werden, wie es diversen von Bolls Regiearbeiten über die Jahre ergangen ist. Vielleicht wäre er besser beraten gewesen, sich in puncto Gewaltdarstellung diesmal etwas zu zügeln. Er geht aber nun mal an die Themen, die ihm wichtig sind, voller Leidenschaft heran, was gelegentlich dazu führt, dass ihm die Pferde durchgehen. Das sei ihm nachgesehen, ist ja auch keine Missetat. Insgesamt wirkt „Hanau“ nicht ganz zu Ende gedacht und mit seiner Agenda in Einklang gebracht, das Dokudrama bleibt mit seiner konsequenten Tätersicht und der Präsentation der Gedankenwelt des Massenmörders aber ein sehr interessanter Kommentar zum Terroranschlag.
Dreharbeiten ein Jahr nach dem Terroranschlag
Besonderes Interesse und kritische Betrachtung weckt „Hanau“ zweifellos auch aufgrund der zeitlichen Nähe zur Tat. Dreharbeiten nur ein Jahr später, deren Vorbereitung somit noch näher dran – da rauschte der Blätterwald und sowohl Filmfans und -journalisten als auch andere hatten sofort eine Meinung. Viele dieser Meinungen, insbesondere die abfälligen, resultierten aus eigenen Glaubenssätzen zum Thema Pietät, was dazu führte, dass Boll von vielen geschmäht wurde. Das kann er doch nicht machen! Wie kann er nur? Dabei ist die Antwort auf die Frage Darf der das? erst einmal simpel: Natürlich darf der das!
In oben erwähntem offenen Brief drohen die Unterzeichnenden mit Strafanzeige und Unterlassungsklage für den Fall, dass Boll Persönlichkeitsrechte der Angehörigen, deren Pietätsempfinden und die fortwirkende Menschenwürde der Verstorbenen missachte. Dazu ist festzustellen, dass der Regisseur die Persönlichkeitsrechte der Angehörigen insofern achtet, als Angehörige nicht im Bild auftauchen und auch nicht genannt werden. Von den Mordszenen mögen einige von ihnen ihr Pietätsempfinden verletzt sehen, allerdings vermag ich hier keine strafrechtliche Relevanz zu erkennen. Auch die Würde der Getöteten bleibt meines Erachtens gewahrt. Boll charakterisiert keinen von ihnen, sie bleiben die willkürlichen Opfer, zu denen der Terrorist sie auserkoren hat, weil sie sich eben zufällig gerade an den Orten aufhielten, die er für seine Bluttaten ausgewählt hatte.
Polizeilicher Notruf nicht erreichbar
In dem Brief wird Boll zudem aufgefordert, seine vorherige Behauptung zu unterlassen, das Ordnungsamt Hanau habe jahrelang versagt. Diese Behauptung wiederholt er im Film in der Tat nicht, ob als Reaktion auf den offenen Brief oder aus anderen Motiven. Boll kritisiert allerdings sehr scharf die Hanauer Polizei für ihre mangelnde telefonische Erreichbarkeit an jenem Abend, ein Vorwurf, den nicht nur er erhebt.
Ist es unethisch, den Anschlag so früh nach der Tat zu verfilmen? Auffällig: Darauf geht der offene Brief der Stadt Hanau überhaupt nicht ein. Der zentrale Vorwurf daraus lautet: Es übersteigt unsere Vorstellungskraft, welche Geisteshaltung notwendig ist, um den gewaltsamen Tod von neun Mitmenschen in einer Art und Weise filmisch umzusetzen, die nach Ihren eigenen Worten zu hart für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten ist. Damit ignorieren die Unterzeichnenden die Existenz einer Vielzahl filmischer Umsetzungen brutaler Gewaltakte aus unserer Realität, bei denen diese Kritik nicht geübt wird. Ob Krimis, Thriller, Kriegsfilme oder schlicht Dramen – permanent entstehen Filme nach tragischen Begebenheiten der Zeitgeschichte. Meist vergeht nur eben mehr Zeit zwischen den Ereignissen und ihrer filmischen Adaption.
Der Regisseur mit dem „unterirdischen Ruf“
Sein Ruf als schlechter Regisseur spielt offenbar auch eine große Rolle bei der Ablehnung, die Uwe Bolls geplante Umsetzung im Vorfeld auslöste. So kritisierte ein Autor der Süddeutschen Zeitung schon im März 2021 das Vorhaben in einem Text, der vor Voreingenommenheit gegenüber Boll strotzt. Da ist davon die Rede, er werde immer wieder als schlechtester Regisseur der Welt geschmäht, und sein Ruf sei so unterirdisch, dass er sich 2018 aus dem Filmgeschäft zurückzog. Gefolgt von einer Unterstellung unter der Gürtellinie: Die Wut, die sein Hanau-Projekt jetzt naturgemäß auslösen muss, will er offenbar als Aufmerksamkeitsmotor für ein Comeback nutzen. Hätte sich der Autor etwas intensiver mit Uwe Boll auseinandergesetzt, wüsste er, dass der Mann Überzeugungstäter ist. Er wüsste auch, dass Bolls Filmografie nicht zwangsläufig den geschmack- und gefühllosen Exploitation-Film befürchten lässt, den er offenbar befürchtet. Der Autor erwähnt sogar, dass Boll einen Film über den Konflikt in Darfur gemacht hat, hat diesen aber offenbar nicht gesehen, denn nach Sichtung von „Darfur – Der vergessene Krieg“ (2009) wüsste er, dass Boll mehr drauf hat, wenn er denn will.
Geradezu entlarvend wird die Anti-Boll-Agenda des Verfassers, wenn er Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) in einen Kontext zu Uwe Bolls „Auschwitz“ (2011) setzt und dabei die Meisterschaft des einen mit der vermeintlichen Talentlosigkeit des anderen vergleicht und seine Haltung als allgemeingültige Wahrheit verkauft: Wahr ist, dass es Werke dieser Art gibt, die am Ende ihr künstlerisches Versprechen überzeugend einlösen, selbst wenn sie im Vorfeld oder bei der Premiere umstritten waren. Wahr ist ebenso, dass schamlose Ausbeuter schon immer das Grauen der Realität für den Versuch benutzt haben, über Schock- und Skandaleffekte schnelle Gewinne einzufahren. Der Meisterregisseur ist somit allein schon aufgrund seines großen Talents glaubwürdig, wer seine Filme nicht ganz so virtuos inszeniert, muss wohl ein schamloser Ausbeuter sein. Eine schäbige Argumentation, die obendrein völlig außer Acht lässt, dass ein Vergleich zwischen dem großen Hollywood-Regisseur Steven Spielberg und dem stets mit Minimalbudgets hantierenden Independent-Filmer Uwe Boll die gewaltigen Unterschiede bei den Production Values berücksichtigen müsste. Auch „Hanau“ sieht man selbstverständlich an, dass Boll für die Produktion nur wenig Geld zur Verfügung stand.
Psychogramm des Täters
„Hanau“ ist ganz sicher kein geschmack- und gefühlloser Exploitation-Film geworden. Uwe Boll klammert die Persönlichkeiten der Opfer komplett aus und konzentriert sich voll auf den Täter. Das Psychogramm mag oberflächlich sein, und der Fokus auf den Mörder inklusive Vernachlässigung der Profile der Opfer kann einem missfallen, es passt aber zu Bolls Agenda, vor solchen Terroristen zu warnen. Wer sich mit der Haltung des Filmemachers etwas auseinandersetzen möchte, dem sei ein Interview bei „Blickpunkt Film“ empfohlen.
Bleibt die Frage, die nach derzeitigem Ermittungsstand wohl bejaht wird: War Tobias R. ein verwirrter Einzeltäter?
Alle bei „Die Nacht der lebenden Texte“ berücksichtigten Filme von Uwe Boll sind dort in der Rubrik Regisseure aufgelistet.
Veröffentlichung: 4. März 2022 als Blu-ray und DVD, 17. Februar 2022 als Video on Demand
Länge: 78 Min. (Blu-ray), 75 Min. (DVD)
Altersfreigabe: FSK 16
Sprachfassungen: Deutsch
Untertitel: Deutsch
Originaltitel: Hanau
D 2022
Regie: Uwe Boll
Drehbuch: Uwe Boll, Steffen Mennekes
Besetzung: Steffen Mennekes, Radost Bokel, Imad Mardnli, Tito Uysal, Adam Jaskolka, Daniel Faust, Robert Hofmann, Christopher Köberlein, Annika Strauss, Sven Zinserling, Vito Anthony Adragna, Robin Atalay, Alper Buyukyigit, Erlogan Ercan, David Erstling, Hiltrud Hauschke, Jannis Hollmann, Teggour Ismail
Zusatzmaterial: Audiokommentar von Uwe Boll, Making-of, Trailer
Label/Vertrieb: Tiberius Film
Copyright 2022 by Volker Schönenberger
Szenenfotos & Packshots: © 2022 Tiberius Film