Maarten ‚t Hart: Das Wüten der ganzen Welt (Rezension)

Maarten ‚t Hart: Das Wüten der ganzen Welt

Gastrezension von Ulli Gau, die mit ihrem Café Weltenall einen wunderschönen Blog betreibt.

In den letzten Wochen habe ich den Schriftsteller Maarten ‚t Hart entdeckt. Und wenn ich erst einmal begeistert bin, dann schaue ich nach mehr Büchern von ein und demselben Autor.

Maarten ‚t Hart wurde 1944 in Maassluis (NL) als Sohn eines Totengräbers geboren. Er studierte Biologie in Leiden und dozierte dort in dem Fach Tierethologie. Mittlerweile sind zahlreiche Bücher von ihm erschienen. Ich las:

  • In unnütz toller Wut
  • Die Netzflickerin und
  • Das Wüten der ganzen Welt, um das es hier geht …

Maarten ‚t Hart ist ein wunderbarer Erzähler, verknüpft seine philosophischen Gedanken über Gott und die Welt geschickt mit seinen Geschichten, die in der Regel keine leichte Kost sind, die aber durch seinen Humor immer wieder Leichtigkeit erfahren. Außerdem ist er ein großer Klassikliebhaber. Bach steht bei ihm ganz vorne, aber auch Brahms, Mozart, Beethoven, Mendelssohn Bartholdy und Bruckner tauchen immer wieder in seinen Romanen auf.

Das Wüten der ganzen Welt ist im weitesten Sinne ein Krimi. Zum Buch erschien ebenfalls eine CD mit den von ihm erwähnten Musikstücken. Diese steht nun auf meinem Wunschzettel …

Maarten 't Hart: Das Wüten der ganzen Welt

Maarten ‚t Hart: Das Wüten der ganzen Welt

Es ist nicht wirklich meine Art Rezensionen zu schreiben. Lieber ist es mir, Stellen, die ich im Buch angestrichen habe, mit euch zu teilen. Das sind Stellen, die ich später gerne noch einmal lese, um sie zu verinnerlichen und zu verdauen. Manche können auch Bestätigungen für meine eigenen Gedanken, mein eigenes Erleben und Spüren sein.

Eine besondere Freude war es für mich, in sehr wenigen Sätzen endlich das Phänomen der Zeit erklärt zu bekommen. Schon länger grübele ich daran herum, wie es gemeint sein kann, wenn manche WissenschaftlerInnen behaupten, dass es die Zeit an sich nicht gäbe, keine Vergangenheit, keine Zukunft, alles soll immer gleichzeitig stattfinden, nur wir kleine Menschen mit unserem speziellen Hirn könnten dies nicht fassen. Ha! Es geht:

„Wie eigenartig, dass man in einem solchen sonnendurchglühten Augenblick denkt, das ganze Leben liege noch vor einem, während sich später herausstellt, dass ein solcher Moment das wahre Leben ist. Die Hoffnung hat dann noch einen langen Weg zu gehen; von Beruhigung kann nicht die Rede sein, alles atmet Erwartung. Ich wollt, ich stünde wieder dort, an einem solchem Sommertag im Februar, während sich die Gardinen blähten und mir ins Gesicht wehten. Solange sich das Weltall ausdehnt, bleibt jeder Augenblick in einem Menschenleben bestehen, denn irgendein Fleckchen im Weltall ist genauso viele Lichtjahre von diesem Augenblick entfernt. Wenn du an jenem Fleckchen wärst und durch ein Fernglas zur Erde schauen könntest, würdest du dich selbst dort stehen sehen – am offenen Fenster, in der Sonne, für immer an den einen Punkt der Zeit festgenagelt, der niemals verlorengehen wird.“ (S. 267)

(Be-)merkenswertes:

„Es ist viel schwieriger, sich nach Jahren noch an etwas zu erinnern, was man damals gedacht hat, als das, was damals geschah …“ (S. 312)

„Warum hatte ein Mensch Eltern? Warum riefen sie, wie sie so dahinschlurften, derartig gegensätzliche, einander widerstreitende, schmerzliche Gefühle in einem hervor, Erbarmen und Entsetzen, Mitleid und Abscheu, Anhänglichkeit und Wut? Es war, als müsste die Zuneigung im selben Augenblick von Gefühlen begleitet werden, welche diese Zuneigung wieder zunichte machten. Liebe wurde zu Groll, Anhänglichkeit zu Ablehnung.“ (S. 314)

Maarten 't Hart bei einer Signierstunde

Maarten ‚t Hart bei einer Signierstunde / Bild: Jost Hindersmann/wikimedia unter CC-by-SA 3.0

Im folgenden Absatz geht es um die Spießbürgerlichkeit bzw. dem kleinen Geist der Menschen aus dem Dorf, in dem der Protagonist aufwuchs.

„Spießbürgerlich? Findest du das? Das ist nicht der richtige Ausdruck. Du könntest eher sagen: beschränkt. Oder nein, das ist es auch nicht, die Menschen dort sind sehr herzlich, viel herzlicher und gemütlicher als hier in Leiden. Aber ihre Welt ist klein, sie haben immer nur zwischen Fluss und Bahnübergang gewohnt, sie haben den Fluss nie überquert und den Bahnübersteig nur selten. Dadurch können sie vieles nicht verstehen. Für sie ist eine unverheiratete Mutter eine rätselhafte Erscheinung. Davon haben sie eigentlich noch nie etwas gehört. Und eine Universität? Na, du hast gehört, was dein Vater sagte: >Gehst du hier auch zur Schule?Das Leben ist banaldas Leben ist eine Dreigroschenoper, all die erhabenen literarischen Geschichten versuchen nur, die bittere Pille zu versüßen, schlagen nur Schaum vor deinen Augen, vertuschen und vergewaltigen nur die alltägliche Wirklichkeit, blenden dich nur mit Ästhetik. Hannah Arendt spricht so eindrucksvoll von der Banalität des Bösen, aber auch das Gute ist banal, sogar das Erhabene ist banal. Das Leben ist so flach, soll ein Dichter einmal gesagt haben, dass du an seinem Ende schon deinen Grabstein stehen sehen kannst.<“ (S. 404)

Zum Ende noch der Klappentext, von Elke Heidenreich geschrieben:

„Es ist eine Geschichte über Musik und Schönheit, Enge und Verbohrtheit, über das Erwachsenwerden und die Nachkriegszeit, verzweifelte Lebenslügen und feigen Verrat – und wenn man ganz am Schluss den Prolog noch einmal liest, dann wächst der Roman zu einem wunderbaren Kunstwerk zusammen. Dass dieses Kunstwerk sogar auch komisch ist, ist ein besonderer Verdienst des Autors, der in den Niederlanden zu den Großen zählt.“

(c) Ulli Gau 2016

Maarten ‚t Hart: Das Wüten der ganzen Welt. Aus dem Niederländischen von Marianne Holberg. Piper, München, Zürich 1999. 410 S.

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