Unterwegs zu Cecilia | Elfter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Wasserdampf drang aus einem Rohr, das in eine Wand des Verlieses eingelassen war, und nebelte das Verlies ein. Cecilia hockte mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen vor den Knien auf dem Boden. Sie hob ihren Ellenbogen und steckte das Gesicht in die Armbeuge. Es war stickig und dunkel. Der heiße Dampf brannte in ihrer Kehle. Sie hustete.

Cecilia stemmte sich gegen die Müdigkeit. Sie hob den Kopf, stand auf, drehte sich um und stellte sich ihr Spiegelbild vor. Es wäre konturlos und würde mit dem Raum hinter ihrem Rücken verschmelzen. In diesem Moment wäre sie wie gelähmt. Sie stellte sich vor, wie sich der Nebel rot leuchtend ausdehnen würde bis in alle Winkel des Raums, in dem die Zeit stillstände. Sie wäre gefangen in einer endlosen Schleife.

Raue Steinwände begrenzten das fensterlose Zimmer. Von der Decke fiel ein warmer Regen auf Cecilia. Ihre Tunika hatte sich mit Wasser vollgesogen, das Leinen heftete sich an ihre Haut. Sie hockte sich wieder hin. Der Dampf bildete Wolken mit sich ständig verändernden Mustern, in denen sie las. Einige Male erkannte sie Figuren in ihnen, andere Male Gesichter.

(c) valentino 2021

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Unterwegs zu Cecilia | Achter Teil

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Illustration: Valentino

Ich nahm ein gelbes Taxi an der Kreuzung Avenida Constitución und Carrillo Puerto und zahlte dem Fahrer fünf Pesos. Wir fuhren los. Auf Höhe der Zona Norte lag zwischen der Metallwand und San Ysidro, der ersten Siedlung auf der anderen Seite, ein mehrere Kilometer breiter sandiger Streifen, auf dem vereinzelt Sträucher wuchsen. Danach passierten wir eine tiefe Schlucht, dessen Hänge mit Hütten übersät waren.

In Playas stieg ich aus und ging zu Fuß weiter. Die Skyline von San Diego mit der Coronado-Brücke lag als spielzeuggroße Silhouette in einiger Entfernung hinter dem Grenzzaun im Dunst am Horizont. Die rostfarbene, metallene Wand ragte auf Holzpfählen dreißig Meter ins Meer. Über der Wasseroberfläche hingen kleine weiße Wolken am blauen Himmel.

Ich lief hinunter zum Strand. Irgendwo auf der anderen Seite würde sich Cecilia befinden. Doch bis Portland war es ein weiter Weg und ich müsste noch eine Nacht in Tijuana bleiben, bevor ich die Grenze überqueren würde. Mit diesem Ziel vor Augen kehrte ich auf die Promenade zurück und aß bei einem Imbiss-Wagen Garnelen-Tacos.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Fünfter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Beim Aufwachen hatte ich das Zeitgefühl verloren. Ich blickte durchs Fenster des Comedors. Der Regen hatte aufgehört, als das milchige Mondlicht durch die Wolken brach. Noch immer war ich allein im Raum. Narcisa war nicht gekommen. Aus der Küche hörte ich Geräusche vom Schneiden und Zubereiten von Speisen. Eine leise Musik spielte im Radio.

Ich wusste nicht mehr, ob ich alles wirklich erlebt hatte oder ob ich bloß träumte und einer Illusion hinterherlaufen würde. Was war aus Sandy und den Mendozas geworden? Ich hatte Narcisa seit unserem letzten Zusammentreffen vor einem Jahr in Todos Santos nicht mehr gesehen. Hatte ich den weiten Weg auf mich genommen und einen halben Tag im Bus verbracht, um an diesem Abend alleine zu bleiben?

Essengerüche drangen aus der Küche. Nach dem Fest hatte sich eine seltsame Stille über das Bergdorf gelegt. Ich stellte mir vor, wie die Leute nach dem Regen nach Hause gegangen wären. Nebel stiege über den Berghängen auf. Am Hang gegenüber lägen im Mondlicht über dem Tal die Terrassen von K’atepan, der verlassenen Tempelanlage der Maya. Ich hing meinen Gedanken nach, als sich behutsam knarrend die Tür öffnete und aus der Nacht Narcisa in den Comedor Coyoteca eintrat.

(c) valentino 2020

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Pakal – Auf den Spuren eines Blutherrschers | Erster Teil

valentino

Guatemala

Illustration: Valentino

Die Landeklappen an den Tragflächen der Boeing 737 surrten. Ich lehnte mich an die Rückenlehne des Sitzes und blickte aus dem Fenster in den dichten Nebel. Irgendwo unter mir musste sich die Landebahn befinden. Nach der Landung flanierten Reisende in den Läden des Terminals, die steuerfreie Ware anboten. Von den Decken herabhängende Monitore zeigten in Leuchtschrift Zielflughäfen in aller Welt. Im Spiegel des Waschraums erinnerten mich Ringe unter den Augen an fehlende Stunden Schlaf. Ich betätigte die Armatur über dem Becken, füllte meine hohlen Hände, beugte meinen Kopf vornüber und benetzte mein Gesicht mit Wasser.

Mit dem Handgepäck in der Hand spazierte ich durch das langgezogene Flughafengebäude. Am Flugsteig des Anschlussflugs setzte ich mich auf einen der Ledersitze, die sich im Wartebereich aneinander reihten. Durch die Glasscheibe beobachtete ich einige Arbeiter, die auf dem nebligen Vorfeld eine Maschine abfertigten. Aus dem Lautsprecher schallte eine kurze Durchsage, die Maschine – diesmal eine Boeing 747 – sei startbereit. Ich stellte mich in die Reihe. Die Flugbegleiterin grüßte und riss die Bordkarte ab.

Ankunft am späten Nachmittag in Mexico-City, Flughafen Benito Juárez: Sonnenuntergang in der Zwanzig-Millionen-Metropole. Im Flughafengebäude traf ich Geisler wieder, einen Mitreisenden aus Hannover, den ich bereits an Bord der Maschine kennengelernt hatte. Nachdem wir Grönland, Labrador und Texas auf der sogenannten Polarroute überquert hatten, lag der größte Teil der Reise hinter uns. In einer Stunde würden wir in Guatemala sein. Da Geisler in einem anderen Teil des Flugzeugs saß, verabredeten wir uns dort. Von oben konnte ich die Wolken sehen, die über dem Hochland hingen. Bei der Ankunft war es stockfinster.

(c) valentino 2016

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Unterwegs im Lande des Vlad Țepeș | 17. Teil

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Haus in den Karpaten

Illustration: Valentino

Tief hingen die Wolken in den bewaldeten Vorgebirgen der Karpaten. Bis nach Piatra Fântânele wand sich der Weg stetig bergauf und folgte einem Gebirgsbach durch eine tiefe Schlucht. Obwohl das trübe Wetter uns die Sicht auf die Landschaft verwehrte, hörten wir das Plätschern des Bachs und rochen das Moos auf dem Fels. Ein Feuersalamander kroch über den nassen Asphalt. In Holda trafen wir einen alten Mann, den wir nach einer Berghütte in der Gegend fragten und der uns fünf Kilometer durch den Regen ins Nachbardorf zum Holzhaus der Alesandrus führte, in dem wir unterkamen.

Das junge Paar Mioara und Zeno versorgte sich und ihre beiden Kleinkinder Maria und Toma mit selbstangebautem Gemüse aus dem Garten und mit Hühnereiern aus dem Stall. Auch gab es heißes Wasser zum Duschen und einen Ofen, an dem wir die nassen Sachen trockneten. Wir nahmen ein wohltuendes, mitternächtliches Bad und schliefen unter den warmen Decken rasch ein. Am nächsten Morgen machte Mioara sich Vorwürfe, weil ein Huhn fehlte. Sie hatte am Vorabend vergessen, die Tür zum Hühnerstall zu schließen, durch die in der Nacht ein Fuchs eingedrungen war.

Unsere Route führte entlang des Bettes der Bistrița und über einige Hügel, bis sich der Fluss vor Bicaz zu einem See staute, an dessen Uferhängen wir uns in einer Berghütte einmieteten. Am nächsten Morgen klarte der Himmel auf und wir sahen in der Ferne das Felsmassiv der Karpaten. Weil das Wetter unbeständig war und wir uns nach Wärme sehnten, rückten wir von unserer geplanten Route durch die Berge ab und nahmen Kurs ostwärts, um in dieser Richtung in einigen Tagen das maritime Klima der Region der Donaumündung zu erreichen.

(c) valentino 2013

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Die Entstehung eines Aquarells | 2

valentino

Wie schon bei der Kristallhöhle vollende ich zunächst den Vordergrund. Die Zweige einer Tanne ragen in das Bild hinein. Dahinter entstehen die bewaldeten, regenwolkenverhangenen Berge unter einem trüben Himmel.

(c) valentino 2013

geheimschrift des iohanan vom aufstieg aus dem dunkelen reich ins licht | zweiter gesang | 53 bis 56

belmonte

zweiter gesang

53 da kamen aber die magunen und warfen
das land unter sich îre gesichter trennten
sich aus den wolken und überfielen jeden
winkel sie erschlugen die alten und schlaffen

54 und töteten die heute niemand mehr kennt
und ergriffen die macht mit der sie das leben
ausgossen und ausbluten ließen und kamen
in scharen sich menschen und tiere zu nennen

55 tod war allen die aufstanden eingeschrieben
wann dunkele nacht das licht unter sich nahm
verfolgten sie deinen vater und sie fingen
în und brachten în um und die bei îm blieben

56 und erschlugen deine brüder allesamt
und deine mutter hängten sie auf sie hing
mit einem erstummten schrei auf îrem mund
îr innerstes kêrte nach außen zu flammen

(c) belmonte 2012

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Rauschen III

valentino

Illustration: Valentino

Draußen vor Ralphs Fenster fegte ein Regenschauer unter träge lastenden, grauen Wolkentürmen hinweg über das Meer, auf dessen Oberfläche warme Tropfen prasselten.

Ralph träumte.

Ein Jeep hätte an einer Station gehalten, der einzigen weit und breit. Ein Pärchen käme aus einem kleinen Laden. Die Frau trüge ein Bündel.

Eine auf der Rückbank des Wagens sitzende Frau würde zum Fahrer sagen, Denisa hätte geträumt, die Straße wäre im Wasser geendet. Es wäre Sommer gewesen. Wir wären durch den Wald gefahren, der sich gelichtet und den Blick über das Ufer auf das Wasser freigegeben hätte. Dann wäre das Meer überall um uns herum gewesen und eine milde Brise hätte geweht. Wir wären das Ufer des Dammes hinabgestiegen und durch das Wasser gewatet, das uns bis zu den Knöcheln gestanden hätte.

Der Fahrer, ein Mitte-Dreißiger, würde die schlanke Frau beobachten, als sie neben dem Mann gerade auf Höhe der Zapfsäule ging. Das Bündel, sie trüge es wie ihr Baby. Nackte Arme umsäumten die ärmellose Bluse.

Das Pärchen stiege in den Jeep. Der Mann nähme auf dem Beifahrersitz Platz, Denisa mit dem Bündel hinten neben der anderen Frau. Kurz darauf würde sich das Fahrzeug in Bewegung setzen. Die Sonne stünde tief, würde auf und ab hüpfen, rot glühend im inneren Rückspiegel des Jeeps, als dieser über die buckelige, schlammige Piste raste.

(c) valentino 2012

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Link zum vierten Teil „Rauschen“