Der Mann von La Mancha – Letzter Glanz der Traumfabrik oder unmöglicher Traum? (Filmrezension)

Man of La Mancha

Gastrezension von Tonio Klein, Autor unseres Partner-Blogs „Die Nacht der lebenden Texte

Musical // Nach dem phänomenalen Erfolg von „Meine Lieder, meine Träume“ (1965) bäumte sich Old Hollywood ein letztes Mal zu prächtigen Musical-Großproduktionen auf, welche aber mit Ausnahme von „Funny Girl“ (1968) ohne oder mit unter den Erwartungen liegendem Erfolg liefen. Die 1970er-Jahre schienen angesichts von Vietnamkriegsprotesten und Gegenkultur nicht mehr die Zeit fürs hoch budgetierte Überwältigungskino zu sein, wozu ich mich am Beispiel von Blake Edwards’ so gnadenlos geflopptem wie unterschätztem „Darling Lili“ kürzlich in „70 Millimeter“, Heft 2, äußern durfte. „Der Mann von La Mancha“ hingegen ist eine europäisch-amerikanische Angelegenheit, die zwar ebenfalls gemischte Kritiken erhalten hatte, bei der aber ein genauer Blick lohnt.

Ist der Verstand auch im freien Fall …

Hierbei geht es nicht um eine Verfilmung des berühmten Romans „Don Quixote“ von Miguel de Cervantes, sondern um die Adaption des Theatermusicals „Der Mann von La Mancha“ (1965) von Dale Wasserman (dramatischer Text), Mitch Leigh (Musik) und Joe Darion (Liedtexte). Dieses war auch in Frankreich äußerst beliebt und bekannt, hatte doch der immens populäre Sänger Jacques Brel 1968 die Übersetzung besorgt und die Hauptrolle gespielt. Nicht unter französischer, sondern unter italienischer Ägide fand die Produktion für den US-Verleih United Artists statt (heute zu MGM gehörend, weswegen nun auf der DVD der Löwe zu sehen ist), welche erkennbar gleichermaßen auf den amerikanischen und europäischen Markt zielt. Ein gebürtiger Kanadier (Arthur Hiller) führte Regie, ein Weltstar irischer und einer italienischer Herkunft (Peter O’Toole und Sophia Loren) übernahmen die Hauptrollen – alle drei mit Hollywood-Erfahrung. Kann man sich wenigstens dann von Zuschreibungen wie Old Hollywood und New Hollywood lossagen? Ja – unter anderem natürlich, weil es eben kein reiner Hollywood-Film ist. Aber es klappt auch aus anderen Gründen.

Die Handlung: Theater als Imagination

Die zumindest im Groben auch Nichtkennern des Romans bekannten Eckdaten binden Stück und Film in eine doppelbödige Rahmenhandlung ein. Miguel de Cervantes (Peter O’Toole) höchstselbst wird von der Spanischen Inquisition eingekerkert. In der Massenzelle haben die Mitgefangenen einen gesellschaftlichen Mikrokosmos errichtet, in dem sich der Neue zu bewähren und vor einem improvisierten Tribunal seine „Verteidigung“ vorzubringen hat. Wessen er angeklagt ist, wird eher indirekt klar – ein Poet, der dem Schmutz und der Ungerechtigkeit der Welt nicht ins Auge sieht, ist in harten Zeiten halt suspekt. Vor diesem Hintergrund ist Cervantes’ Plädoyer eine Vorwärtsverteidigung, denn er inszeniert mit den Kerkergenossen die Geschichte eines seligen Toren, eben Don Quixotes, in dessen Rolle er auch gleich schlüpft. Am Ende bleibt offen, ob er sich ebenso eindrucksvoll vor den Inquisitoren wird verantworten können, aber wenn das Ganze mit der Reprise des berühmtesten Liedes des Stücks, „The Quest (The Impossible Dream)“, endet, ist klar, worum es Cervantes, Stück und Film geht.
Dabei scheint die Konstruktion zunächst prädestiniert für das Medium des Theaters. Der Film hat nicht die Traute, die komplette Zeit in der Zelle spielen zu lassen oder mit als theaterhaft erkennbaren Kulissenschiebereien zu arbeiten. Er hüpft per Schnitt in die wirkliche Welt des Don Quixote, visualisiert also das Imaginierte. Mein geschätzter Kollege Lars Johansen meint in seiner Rezension im oben angegebenen Heft: „Hiller nutzt die Kerkerkulisse nicht als den offenen Raum, der sie eigentlich ist.“ Das kann man so sehen, aber Hiller beschwört das Hyperrealistische auch nicht mit dem Holzhammer herauf. Der ikonischen Szene mit dem Kampf gegen Windmühlenflügel entledigt er sich recht flott zu Beginn; dort sehen wir ein realistisches Setting und blauen Himmel.

… so ziehen und machen sie einfach weiter

Hiernach wechselt der Don-Quixote-Handlungsstrang recht schnell zu seinem Hauptschauplatz, einer schäbigen Herberge, die der eingebildete Ritter aber für ein edles Schloss hält. Und Aldonza (Sophia Loren), die dort einer recht derben Kundschaft Speis, Trank und ihren Körper serviert, hält er für die Edelfrau Dulcinea.

Sie sieht die schmutzige Welt, er sieht nur Dulcinea

Dort nun sieht es völlig anders aus als in der Windmühlenszene. Außer nächtens ist der Himmel von einem schimmeligen Rosagrau, und es ragen ein paar dünne Zweiglein ins Bild wie eine Studiokulisse. Die Herberge dominiert alles, einen Panoramablick auf die Gegend bekommen wir nie geschenkt. Mein Rechercheeifer hält sich in Grenzen, denn es kommt nicht darauf an, ob das künstlich war, sondern darauf, dass das künstlich aussieht. Und das gereicht diesem Stoff natürlich zum Vorteil. Auch bei der Kostümierung leistet das Werk sich etwas, das eigentlich eine filmische Sünde ist, hier aber das Gegenteil. O’Toole als Don Quixote trägt falsche Glatze mit Perücke und einen falschen Bart, um in seiner Rolle älter auszusehen. Das klassische Theaterutensil ist für das Medium Film eigentlich viel zu dick aufgetragen, unterstreicht hier aber das Theaterhafte, was als „Theater im Theater“ (bzw. Theater im Film) ja vorgegeben ist. Man könnte auch sagen, O’Toole ist bis zur Kenntlichkeit verkleidet, und das ist gut so.

Vorhang auf – vor allem für Sophia Loren!

„Der Mann von La Mancha“ ist geschickt darin, mit seinen Stars umzugehen. Was O’Toole betrifft, nutzt er einen Verzögerungseffekt, indem er ihn als Cervantes zunächst mit Maske auftreten lässt, als Gaukler in einer kleinen Stadt, bevor er verhaftet wird. Was Signorina Loren betrifft, dehnt die Regie ihre Einführung noch deutlicher. Sagen wir es offen, ich habe eine Schwäche für sie. Und es ist verdammt schwierig, Personen im Film in Szene zu setzen, die beides sind: Star und Ikone, sofort erkennbar – aber auch Schauspieler, fähig, in andere Rollen zu schlüpfen. Das gelingt dem Film verdammt gut. Wir sehen zunächst nur ein paarmal ganz kurz ihr stummes Gesicht als eine Mitgefangene und wissen natürlich sofort: Das ist sie. Ja, sie hat nicht nur eine Figur, sondern auch ein Gesicht. Wenn sie dann als Kellnerin und Hure auftritt, scheut sich der Film hingegen nicht, das Klischee ihrer Traumkurven zu bedienen, mit einem Ausschnitt, der, nun ja, tief blicken lässt. Man mag ihre Darstellung, ihren aggressiven lebensangeekelten Gesang zumal, für forciert halten. Dabei sieht man jede Sekunde: Das ist nicht eine, die sich hinter der Rolle komplett unsichtbar macht, das ist die Loren, und natürlich ist die dreckige Hure eine Schönheit unter dem abgewetzten Gewand, äußerlich wie innerlich. So etwas ist gerade bei weiblichen Filmschönheiten immer ein schmaler Grat, aber es geht auf, aus zwei Gründen: Erstens passt ihr offensichtlich sehr kalkuliert eingesetztes Image wunderbar zum Hauptthema des Filmes: Cervantes/Quixote malen sich die Welt, widdewidde, wie sie ihnen gefällt. Und in Quixotes Augen wird Aldonza zu Dulcinea. Was sie erst nervt und die Fassung verlieren lässt, dann beeindruckt und empathisch macht. In der Loren stecken Ikone und Schauspielerin – und eben auch Aldonza und Dulcinea.

Wenn er sich geschlagen gibt, dann nur zum Ritter

Zweitens sind es gegen Ende die Szenen mit ihr, die sehr stark nur ihr Gesicht betonen, und man kann nun sehen, was sie für eine ausdrucksstarke Darstellerin ist – auch wenn die Theaterschminke aus genannten Gründen mal wieder (sicherlich bewusst) bis zur Schmerzgrenze eingesetzt wurde. Vor allem die blass geschminkten Lippen, welche gegen Ende auch O’Toole zieren – und von übertrieben blutroten Augen bei so manchem wollen wir gar nicht erst reden.

Ritterschlag für einen Film

Klassische Musicals (also mit Gesang, unsichtbarem Orchester und ein bisschen Tanz in Situationen, in denen das nicht der Handlungsrealität entspricht, anders als in Filmen über Showstars) muss man mögen, sonst ist man hier rettungslos verloren. Dies ist bei allem Lob kein Film, der geeignet ist, Genreverächter zu bekehren. Genregenießer indes bekommen so manches geboten, wenngleich nicht O’Tooles original Singstimme. Die Musik verbindet das Orchestrale mit dem Spanisch-Folkloristischen, wobei wieder einmal deutlich wird, welche Spuren auch die arabische Musik auf der iberischen Halbinsel hinterlassen hat (vor allem erkennbar an einem markanten Eineinhalb-Tonschritt im „arabischen Moll“). Die Songs sind sämtlich von diesem Lokalkolorit geprägt, ohne sich zu sehr zu wiederholen, und sie schütten die ganze Angelegenheit nicht dermaßen zu, dass nicht noch Platz für das Drama wäre. Besonders zu gefallen vermag, dass gelegentlich das Verspielte mit dem Dramatischen zu einer Einheit verschmilzt, gerade beim Tänzerischen. Während beispielsweise – auch ein interessanter Ansatz – Robert Wise und Jerome Robbins den maximalen Kontrast suchten (meisterhaftes Tanzen in realistischer Kulisse in der filmischen Adaption der „West Side Story“), ist dem vorliegenden Film eher an einer Synthese gelegen. Die Crew kann recht ordentlich tanzen, stellt ihre Kunstfertigkeit aber nicht übermäßig heraus, und eine „Schlacht“ (also eher eine Klopperei) ist in einem gewissen Maße auch tänzerisch, ohne das Artifizielle auf die Spitze zu treiben.

Per Treppe aus der grausamen in eine andere Welt

Natürlich wird auch gesungen, wenn Quixote nach seinem „Sieg“ zum Ritter geschlagen wird, und dann bilden der schon vorher mit Quixote verbundene Sancho Pansa (James Coco), Aldonza/Dulcinea und der Gastwirt (Harry Andrews) endlich eine Einheit. Quixote und Dulcinea als Paar? Zumindest als Team. Danach geht die Geschichte noch ein gutes Stück weiter, und wenn die Verwandten, In-spe-Verschwägerten und der Priester aus Quixotes Heimat den „Ritter“ per symbolischer Selbstbespiegelung als Gespaltenen vorführen und von seinem Wahn kurieren wollen, wird auch dem Letzten klar: Selig sind die Verrückten in einer grausamen Welt, an deren Sinn man sonst verzweifeln könnte. Das kann man mögen oder nicht. Wenn die Loren perfekt auf Knopfdruck ein Tränchen fließen lassen kann und am Ende die Treppe aus dem Kerker eine Treppe in eine andere Welt ist, das „Träume den unmöglichen Traum“ gleichsam verabschiedend wie beschwörend – dann hat mich dieser Film endgültig. Wer nicht gern träumt, muss aber auch keine Albträume von ihm bekommen.

Den beiden DVD-Auflagen von 2005 und 2006 fehlt jegliches Bonusmaterial. Die hier zugrundeliegende Pidax-Variante verpasst eine Gelegenheit, eine Lücke zu schließen, denn als einziger Zusatz finden sich Trailer zu weiteren Filmen des Labels. Zudem ist die Bildqualität zwar nicht schlecht, lässt aber angesichts einer angeblich „Remastered Edition“ Luft nach oben erkennen. Auch wenn man bei den nicht ganz durchgängig künstlich-verwaschenen Farben Methode vermuten kann und dies somit nicht zu kritisieren ist, könnte die Schärfe besser sein und ist das Bild von engen waagrechten Streifen durchzogen. Je nach Bildinhalt fällt dies entweder kaum auf oder hat einen leicht störenden Treppeneffekt, beispielsweise, wenn ein dünner Zweig diagonal im Hintergrund zu sehen ist. Das etwas Unaufmerksame der Edition zeigt sich auch daran, dass der Regisseur nicht Miller (Frontcover), sondern Hiller (Backcover) heißt. So bleibt es bei einem mindestens ordentlichen, je nach Geschmack sogar ausgesprochen berührenden Film, der endlich wieder verfügbar ist.

Veröffentlichung: 18. Februar 2022, 27. November 2006 und 20. September 2005 als DVD

Länge: 124 Min.
Altersfreigabe: FSK 6
Sprachfassungen 2022: Deutsch, Englisch
Sprachfassungen 2006: Deutsch, Italienisch, Polnisch, Englisch, Spanisch
Untertitel 2022: Deutsch
Untertitel 2006: Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch, Niederländisch, Portugiesisch, Schwedisch, Ungarisch
Originaltitel: Man of La Mancha
IT/USA 1972
Regie: Arthur Hiller
Drehbuch: Dale Wasserman, nach seinem Bühnenstück, basierend auf einem Roman von Miguel de Cervantes
Musik: Mitch Leigh
Liedtexte: Joe Darion
Besetzung: Peter O’Toole, Sophia Loren, James Coco, Harry Andrews, John Castle, Ian Richardson
Zusatzmaterial 2022: Trailershow, Wendecover
Zusatzmaterial 2006/2005: keines
Label 2022: Pidax Film
Vertrieb 2022: Al!ve AG
Label/Vertrieb 2006: Twentieth Century Fox Home Entertainment
Label 2005: MGM
Vertrieb 2005: Sony Pictures Home Entertainment

Copyright 2022 by Tonio Klein

Szenenfotos & unterer Packshot: © 2022 Pidax Film,
„Music Film“-Packshot: © 2006 Twentieth Century Fox Home Entertainment,
MGM-Packshot: © 2005 MGM