Unterwegs zu Cecilia | 20. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Ein Geräusch weckte mich. Ich lag auf der Seite. Die Bettdecke reichte bis zur Schulter. Mittags ging ich hinunter in die Küche des Rome’s. Juan bereitete gerade Salat zu. Als er mich sah, richtete er sich auf und grüßte mich. Ich fragte, ob er sich die Stiefel gekauft habe. Daraufhin erzählte er von seiner ersten Begegnung mit Helena. Sie habe auf dem Bordstein am Straßenrand gekauert. Der riesige Vollmond schien hellgelb am tief dunkelblauen wolkenlosen Himmel über dem Schuhgeschäft in der Coahuila. Ich fragte ihn schmunzelnd, ob er abergläubisch sei.
»Was macht die Neun?«, wechselte er das Thema, woraufhin ich wissen wollte, ob er kein Zimmer mit gerader Nummer habe.
»Menschenskind!«, schrie er leicht errötet, »Francis, du Pfeife, wenn du mich verarschen willst, gehste besser wieder Spülen.«
Dann befahl er dem Kellner des Rome’s, der gerade mit Helena Geschirr spülte, er solle ihm Kaffee bringen.
»José«, wandte er sich wieder mir zu, »spült die Stunde doppelt so viel Geschirr wie du. An dem kannste dirn Beispiel nehmen.«
»Du könntest auch mal mit anpacken!«, rief ihm José aus der Küche zu, woraufhin Juan erwiderte, er habe heute schon zwei Tassen gespült.

Zurück im Zimmer öffnete ich das Fenster. Mein Reisepass lag auf dem Nachttisch. Ich hob ihn auf und bemerkte in der Mitte einen Knick. Dann schlug ich ihn auf. Das Einreisepapier fehlte. Ich erinnerte mich daran, wie gestern der Mann mit der Sonnenbrille das Papier zerrissen hatte. Ich schloss das Fenster wieder und fragte mich, wie ich nun über die Grenze nach Portland zu Cecilia gelangen sollte.

Dabei fiel mir wieder der Fleck auf. Ich stellte den Stuhl in die Zimmerecke. Als ich auf die Sitzfläche des Stuhls steigen wollte, um mir den Wasserfleck genauer anzusehen, klopfte es an der Tür. José stand im Flur. Er fragte mich, ob ich ihn ins Rome’s begleiten wolle. Im Restaurant setzten wir uns an einen Tisch. Ich erzählte José vom Verlust des Papiers, woraufhin er vorschlug, einen Termin bei der Behörde zu machen, um für mich ein Ersatzpapier zu beantragen.

(c) valentino 2023

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Unterwegs zu Cecilia | 18. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Im Montebello bekam ich wieder Zimmer neun. Ich legte mich erschöpft aufs Bett. Der Wasserfleck an der Zimmerdecke war tellergroß. Am Abend würde ich im Rome’s essen. Ich schlief mit der Aussicht ein, morgen die Grenze zu überschreiten und in L. A. in den Bus Richtung Portland zu steigen, um dort Cecilia zu treffen.

Als ich abends aus dem Hotel auf die Straße trat, um die paar Schritte ins Rome’s zu gehen, hielt ein Fahrzeug auf der Ecke. Die Tür öffnete sich und ein mittelgroßer kräftiger Mann mit Jacke und Sonnenbrille sprang heraus. Er packte mich am Arm, bog ihn mir hinter den Rücken und warf mich mit dem Kinn gegen den Bordstein.

»Zeig mir deine Papiere!«, schrie der Mann, woraufhin ich ihn bat, mich loszulassen. Er lockerte den Griff. Ich zog meinen Reisepass aus der Hosentasche und reichte ihn ihm. Er schlug ihn auf und zog das gefaltete Einreisepapier heraus. Als er sich weigerte, mir das Papier zurückzugeben, griff ich danach. Er zog die Hand reflexartig zurück.
»Warum hast du keinen Respekt vor der Justiz?«, schrie er, knickte den Pass und zerriss das Einreisepapier in Schnipsel.

(c) valentino 2023

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Unterwegs zu Cecilia | 17. Teil

valentino

Illustration: Valentino

Abends kochte ich Kaffee. Das Apartment war klein, aber komfortabel. Ich dachte an meinen Traum von letzter Nacht. Schon verblasste die Erinnerung wieder. Ich nahm einen Schluck Kaffee. Im Traum hörte ich ein Klopfen. Ich stand auf und ging zur Tür. Durch die Butzenscheibe sah ich die Kontur einer Person, konnte aber nicht erkennen, wer es war. Langsam drehte ich den Türknauf. Die Tür öffnete sich und Juan betrat das Zimmer.

Dann wachte ich auf. Neben mir auf dem Tisch stand die leere Kaffeetasse. Vor Müdigkeit war ich auf dem Stuhl eingeschlafen. Ich ging ins Badezimmer und putzte Zähne. Dann fiel ich ins Bett und schlief ein. Ich träumte, der Beamte blätterte in meinem Pass und sagte, ich sähe anders aus als auf dem Foto. Daraufhin schickte er mich in eine separate Reihe von Wartenden.

Cecilia würde rennen. Plötzlich spürte sie einen dumpfen Schlag gegen ihr Schienbein. Sie fiele bäuchlings in den Staub. Jemand hätte ihr ein Bein gestellt. Sie rappelte sich wieder auf und rannte weiter. Sie kletterte gerade über die Mauer, als ich aufwachte. Ich dachte, ich befände mich irgendwo zwischen einer längst vergessenen Vergangenheit und einer fernen Zukunft.

(c) valentino 2023

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Unterwegs zu Cecilia | Zehnter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Nach meiner Rückkehr ins Hotelzimmer nahm ich Seife und Handtuch. Ich betrat den Flur und passierte die Türen der anderen Zimmer. Die Dusche befand sich am Ende des Flurs. Beim Öffnen der Tür stieg mir eine Wolke Wasserdampf entgegen. Im Raum befanden sich hinter weiteren Türen mehrere Duschen.

Nachdem ich vergeblich versucht hatte, Geld bei den Banken in der Stadt abzuheben, wollte ich am nächsten Morgen über die Grenze, um es bei einer Bank in San Diego zu versuchen. Ich hatte im Restaurant Rome’s unten an der Ecke anschreiben lassen. An den Wänden des Speiseraums hingen viele Bilder mit Straßenszenen. Ein Bild zeigte den Besitzer des Restaurants, zugleich der Hotelier des Montebello, in der Küche. Ich hatte dem Kellner versprochen, am nächsten Abend wiederzukommen, um die Rechnung zu bezahlen.

Ein Geräusch weckte mich in der Nacht. Ich stieg die Treppe hinab, um nachzusehen. Im Foyer saß, mir den Rücken zugewandt, der Hotelier. Die Lampe auf dem Tisch warf ihr mattes Licht auf seine Hände, die rhythmisch einen Stapel Karten mischten. Nachdem ich die Treppe wieder hinaufgestiegen und in mein Zimmer zurückgegangen war, legte ich mich wieder ins Bett und schlief prompt ein.

(c) valentino 2021

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Unterwegs zu Cecilia | Siebter Teil

valentino

Illustration: Valentino

Narcisa setzte sich an den Tisch. Während sie mir gegenüber auf dem Holzstuhl saß, erzählte sie von einem Brief, den Cecilia ihr geschrieben hatte. Aus diesem gehe hervor, sie arbeite in einem Hotel in Portland. Narcisa kramte in ihrer Tasche, holte einen Umschlag heraus und öffnete ihn. Ein Foto, das Cecilia mit anderen Hotelangestellten zeigte, lag dem Brief bei.

Damals war mir nicht klar, dass ich Narcisa auf lange Zeit nicht wiedersehen würde. Auf dem Rückweg nach Huehue fiel ich in ein Delirium, das sich als Beginn einer Blockade erwies. Nach meiner Genesung verstrich eine geraume Weile, in der ich nichts weiter tat, als meinen Gedanken nachzuhängen. Es kommt mir vor, als wäre ich Narcisa erst gestern begegnet. Zugleich scheint mir, als hätte ihr ein anderer Mensch am Tisch gegenüber gesessen.

Beim Blick aus dem Fenster bemerkte ich den hereinbrechenden Morgen. Die Sonne ging über den wolkenverhangenen Berghängen auf. Narcisa verabschiedete sich und verließ den Raum durch die Tür ins neblige Morgengrauen. Lediglich einige Krümel weißer Käse blieben auf ihrem Teller zurück.

(c) valentino 2020

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Unterwegs zu Cecilia | Sechster Teil

valentino

Illustration: Valentino

Weil wir unterwegs aufgrund der zahlreichen Militärrevisionen und des Reifenwechsels in der Sonora-Wüste Zeit verloren hatten, erreichten wir Tijuana nicht wie geplant spät abends, sondern erst am frühen Morgen des Folgetags. In der Wartehalle des zentralen Busbahnhofs standen die Leute an den Ticketschaltern, kauften in Kiosken ein oder gingen zu den Bussteigen. Ich verließ die Halle und ging zum nahegelegenen lokalen Busbahnhof.

Von dort nahm ich den nächsten Bus ins schachbrettartig angelegte Stadtzentrum und stieg dort am Straßenrand an einem hohen Bordstein aus. Ich lief die Straße mit Läden, Bars und Restaurants hinunter. Der Rucksack lastete auf meinen Schultern. Kurz vor Mittag überquerte ich eine Kreuzung und erreichte das Hotel Montebello. Ich trat durch die Tür und schritt über eine knarrende Diele in die Eingangshalle.

Der Hotelier, ein Mann mit Halbglatze, begrüßte mich an der Rezeption und gab mir den Zimmerschlüssel. Daraufhin führte er mich über eine Treppe in den ersten Stock. Ich öffnete die Tür und wir betraten das Zimmer. Ein Dealer saß auf dem Bett. Als er mich sah, stand er auf und bot mir Stoff an. Mit einer reflexartigen Geste scheuchte ihn der Hotelier hinaus.

(c) valentino 2020

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