Auf der Achse des Lichts – Ein Gespräch mit dem Autor und Fotografen Rolf Krane | Teil 2 von 2

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Vnicornis:
Von Deinen Reisen bringst Du sehr viele Fotografien mit. Was kann Fotografie heute noch leisten, da bereits alles verbildlicht zu sein scheint und zu jedem Flecken der Erde zahllose Ausleuchtungen im Internet zu finden sind?

Rolf Krane:
Die Fotografien, die ich von meinen Reisen mitbringe, sind für mich vor allem Gedächtnisstützen für das, was ich unterwegs erlebt habe. Ich bin ein visueller Mensch und kann mich mithilfe der Fotos sehr gut in erlebte Situationen und Begegnungen zurückversetzen. Das hilft mir auch, wenn ich später darüber schreibe.

Viele Leser meines Buches Der Reisende Rahmen haben bedauert, dass ich keine Fotos von der Reise darin veröffentlich habe. Im Nachhinein habe ich deshalb zusätzliche Bildbände erstellt, die online verfügbar sind. Auf meinen Lesungen ist eine Mischung aus Vorlesen, freiem Erzählen und der Präsentation von Dias sehr gut beim Publikum angekommen. Ebenso haben sich Pausen bewährt, in denen Diashows gezeigt wurden, die mit Musik untermalt waren oder zu denen Live-Musik gespielt wurde. Deshalb bringe ich auch von meiner aktuellen Reise über die Achse des Lichts wieder viele Fotos mit.

Der Mont-Saint-Michel gehört zu den am meisten besuchten Orten auf meiner Reise und zählt etwa 2,3 Millionen Besucher im Jahr. Die Anzahl der jährlich aufgenommenen Fotos wird ein Vielfaches der Besucherzahl sein. Jeder Flecken des Mont-Saint-Michel, der für Touristen erreichbar ist, dürfte sich auf einem Foto abgelichtet wiederfinden. Einige Motive werden besonders häufig fotografiert. Jedoch kann jedes Motiv, das aus dem gleichen Blickwinkel aufgenommen wird, zu sehr unterschiedlichen Bildern führen:

Mont-Saint-Michel

Mont-Saint-Michel / Foto: Rolf Krane

Mont-Saint-Michel in der Dämmerung

Mont-Saint-Michel in der Dämmerung / Foto: Rolf Krane

Zuallererst entsteht ein Foto im Auge des Fotografen. Es liefert nicht nur die Abbildung eines Ortes auf der Erde aus einem bestimmten Blickwinkel zu einem bestimmten Zeitpunkt. Es sagt auch etwas über den Fotografen aus. Wir können uns in seine Perspektive versetzen und Vermutungen darüber anstellen, warum er sich für jene Aufnahme entschieden hat. Haben wir nicht nur Zugriff auf ein einzelnes Foto, sondern auf eine ganze Serie oder auf eine Vielzahl von Bildern eines Fotografen, können wir uns fragen, wie er die Welt sieht oder sehen möchte. Welche Auswahl von Motiven hat er im Fokus? Aus welcher Perspektive blickt er darauf? Auf welche Teile des Bilds lenkt er die Aufmerksamkeit des Betrachters mithilfe von Licht, Farbe, Schärfe und gewählten Ausschnitt oder Anschnitt? Über seine Fotos können wir etwas von dem Fotografen als Menschen erfahren, und durch die Fotos, die wir selbst machen, können wir etwas über uns selbst erfahren. In diesem Sinne kann die Fotografie zu unserem Selbstverständnis als Mensch beitragen.

Mitte Februar, noch vor dem Lockdown, war ich in der Düsseldorfer Eröffnungsausstellung Untold Stories des Fotografen Peter Lindbergh, die vom 4. Dezember 2020 bis zum 7. März 2021 im Hessischen Landesmuseum in Darmstadt zu sehen sein wird. Aus seiner persönlichen Sicht stellte Lindbergh selbst die wichtigsten 140 Aufnahmen aus seinem Lebenswerk zusammen, konzipierte die Hängung und hatte dabei alle Freiheit. Über seine Einstellung zur Schönheit sagte er einmal: „Wenn man die Courage hat, man selbst zu sein – dann ist man schön.“ Er starb am 3. September 2019 im Alter von 74 Jahren in Paris, noch bevor die Ausstellung eröffnet wurde. Als sein Freund Wim Wenders ihn im vergangenen Sommer ein letztes Mal besuchte, zeigte Lindbergh ihm die ausgewählten Fotos und sagte: „Du, ich weiß jetzt, wer ich bin.“

Die zahllosen Fotos, die man heute im Internet findet, sind vielleicht ein Ausdruck der vergeblichen Suche von Menschen nach sich selbst, der unbeantworteten Frage nach ihrer Identität in einer zunehmend von Krisen erschütterten globalisierten Welt. Finden sie selbst keine befriedigende Antwort, dann übernehmen sie gerne die Trugbilder, die populistische Führer ihnen vorgaukeln.

Das Gespräch führte belmonte.

(c) belmonte 2020

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