Freiheit durch Gefangenschaft – Fjodor Dostojewski: Schuld und Sühne (Rezension)

valentino

Fjodor Dostojewski Schuld und Sühne

Fjodor Dostojewski Schuld und Sühne

Rodion Raskolnikow (im Folgenden Rodja genannt) mordet als fatalistischer Fanatiker. In einem von ihm verfassten Aufsatz vertritt er die These, gewöhnliche seien von außergewöhnlichen Menschen zu unterscheiden – letztgenannte dürften das Gesetz übertreten. Demzufolge ist für ihn Mord ein notwendiger und entschuldbarer Schritt zum Erreichen eines höheren Ziels. Die bedrückenden Lebensumstände haben seine Ansicht gefestigt. Erst nach der Tat plagen ihn sein Gewissen und die Angst, überführt zu werden, beides stellt seine Seele vor eine Zerreißprobe. Rodja sieht sein Scheitern ein – durch die Tat hat er sich von der Gesellschaft abgeschnitten, was sich in einem physischen Widerwillen gegen die Welt äußert. Erst durch sein Geständnis kann er sich vom ideologischen Täter zu einem Menschen wandeln, der die Welt in ihrer Vielfalt anerkennt. Dabei rettet ihn seine Zuneigung zur gläubigen Sonja.
Dostojewski blickt tief in die Abgründe der Seele eines Mörders und entfaltet ihre Spaltung vor dem Hintergrund der Sankt Petersburger Gesellschaft der 1860er-Jahre in einem über weite Strecken in Gesprächsform verfassten polyphonen Roman.

Hauptfigur des fesselnden Dramas ist der 23-jährige ehemalige Jurastudent Rodja, der bei seiner Vermieterin verschuldet ist. In das kleine verwahrloste Zimmer eines Sankt Petersburger Hauses passen gerade einmal einige Stühle, ein Tisch und ein Diwan. Es ist der Sommer des Jahres 1865. Rodja denkt über ein bisher unbekanntes Vorhaben nach. Er besucht die alte Pfandleiherin Aljona Iwanowna, um bei ihr eine alte Uhr zu verpfänden.

Entgegen seiner Gewohnheit, nach der er Menschen meidet und sich möglichst unauffällig verhält, besucht Rodja ein Wirtshaus und wird in ein Gespräch mit Marmeladow, einem ehemaligen Beamten, hineingezogen. Nachdem dieser ihm sein Leid geklagt hat, bringt Rodja ihn nach Hause zu Marmeladows Frau Katerina und ihren drei Kindern. Seine 14-jährige Tochter Sonja wohnt beim Schneider Kapernaumow und prostituiert sich aus familiärer Geldnot.

Rodjas Schwester Dunja arbeitet als Erzieherin auf einem Landgut. Der Gutsbesitzer Swidrigailow ist eine schillernde Figur, um die sich einige Gerüchte ranken. Dunja will eine Vernunftehe mit dem Advokaten Lushin eingehen, wie Rodja aus einem Brief der Mutter erfährt. Der Brief wühlt ihn auf, weil er gegen die Ehe ist – sie stellt aus seiner Sicht ein Opfer der Schwester für ihn dar. Die Lektüre bestärkt ihn in seinem Plan des Raubmordes an Aljona Iwanowna, um sich wirtschaftlich unabhängig zu machen. Aus Rodjas Sicht schicksalhafte Ereignisse begünstigen seine Tat und beseitigen letzte Zweifel, diese auch wirklich durchführen zu können: Er ermordet die Pfandleiherin und ihre geistig zurückgebliebene Schwester, die früher als erwartet in die gemeinsame Wohnung zurückkehrt.

Nach der Tat fällt Rodja in ein mehrtägiges fiebriges Delirium. In dieser Zeit versucht er, seine Gedanken zu ordnen und Spuren des Verbrechens zu beseitigen. Sein Kommilitone Rasumichin (Rodjas Pendant, weil er überlegter handelt und weltgewandter ist als dieser) kümmert sich um ihn im Glauben, Rodja sei krank. Halbwahnsinniges Fantasieren wechselt sich ab mit ziellosem Umherstreunen in den Gassen. Der Arzt Sossimow diagnostiziert eine Zwangsidee als Ursache für Rodjas rätselhaftes Verhalten.

Auf einem seiner Streifzüge durch die Stadt landet Rodja im Restaurant „Kristallpalast“. Dort begegnet er Samjotow, dem Schriftführer aus dem Polizeibüro (in das Rodja bereits vorgeladen worden war, weil er einen Schuldschein nicht beglichen hat). Er fühlt sich des Mordes verdächtigt. Um diese Verdächtigung zu zerstreuen, bringt er sich im Gespräch mit Samjotow selbst als möglichen Täter ins Spiel. Die zunehmende Verwirrung lässt bei ihm den Gedanken an ein Geständnis aufkeimen, der mit der Zeit immer stärker wird. Doch vorerst passiert Unerwartetes: Marmeladow wird von einer Kutsche überfahren, Rodja kümmert sich um dessen Familie. Seine Apathie weicht Zuversicht, bis Mutter und Schwester ihn nach drei Jahren der Trennung besuchen, woraufhin er zunächst in Ohnmacht und dann wieder ins Delirium fällt.

Später tauchen auch Lushin und Swidrigailow (mit jeweils unterschiedlichen Zielen) in Sankt Petersburg auf. Es entspinnt sich ein vielschichtiges Netz aus Beziehungen und Gesprächen, das die Charaktere der Protagonisten mehr und mehr verdichtet, bis schließlich ihre wahren Gesichter zum Vorschein treten. Die Handlung spitzt sich zu und erreicht ihren vorläufigen Höhepunkt auf Marmeladows Begräbnisfeier – nicht der letzte in Dostojewskis meisterhaftem Drama. Unvergleichlich: Rodjas Verhör durch Untersuchungsführer Porfirij.

Episodenhaft wechseln sowohl die Schauplätze – Rodjas Zimmer, der Heumarkt, das möblierte Zimmer, das Dunja und Rodjas Mutter bewohnen, einige Lokale, Sankt Petersburgs drückend heiße, staubige Straßen und die Inseln der Newa – als auch die Perspektiven: In den Figuren spiegeln sich unterschiedliche Weltanschauungen wider, die sich nicht zuletzt auf ihre Lebensverhältnisse zurückführen lassen und über die auch einige von ihnen verfasste, in die Erzählung eingeflochtene Briefe Auskunft geben. Dostojewski fängt die Stimmungen der Protagonisten feinkörnig ein und beschreibt darüber hinaus präzise, wie unterschiedlich die Figuren wiederum die Stimmungen der anderen wahrnehmen. Mehrere aufeinanderfolgende Begegnungen mit unterschiedlichen Figurenkonstellationen (die allerdings manchmal etwas konstruiert wirken) sind dermaßen tragikomisch, dass man zugleich weinen als auch lachen kann.

„Schuld und Sühne“ ist das erste Buch, das ich von Dostojewski gelesen habe, und meine erste größere Lektüre seit Marcel Proust vor fünf Jahren (natürlich mit Ausnahme der Traven-Romane). Gefallen hat mir, dass sich Rodja zwar zur Religion hinwendet, die für ihn eine Hilfestellung zur Lösung seiner seelischen Probleme darstellt, aber dieser Aspekt nach meiner Ansicht nicht so sehr im Vordergrund steht (jedenfalls nicht so wie ich vermutet hatte, denn Dostojewski hat sich selbst in der Gefangenschaft mit dem Evangelium des Neuen Testaments auseinandergesetzt, nachdem er zuvor Anhänger atheistischer, sozialrevolutionärer Ideen gewesen war und aufgrund der Mitgliedschaft in einem solchen Kreis gefangen genommen wurde). Alles andere hätte ich problematisch gefunden, denn so wie zum Beispiel ein Mensch von einer Ideologie überzeugt einen anders denkenden Menschen tötet, tut er dies doch auch im Namen eines religiösen Fanatismus (auch wenn Dostojewski Religion nicht ideologisch verstanden wissen wollte). Ich bin gespannt, wie es mit Dostojewski weitergeht – als nächstes steht „Die Brüder Karamasow“ auf dem Plan.

Noch ein Wort zu Dostojewskis Verwendung der russischen Namen: Dostojewski nennt ein und dieselbe Figur beliebig mit ihrem Vor-, Spitz-, oder Nachnamen. Wer sich davon nicht verwirren lassen will, schaue in den Anhang, dort befindet sich ein Namensverzeichnis.

(c) valentino 2014

Fjodor Dostojewski: Schuld und Sühne, Piper Verlag, München 2008, 776 S.

Link zum Datensatz im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek